Die Eisprinzessin schläft
Dieser Schritt, das eigene Leben zu beenden, erfordert innere Kraft. Sie hat diese Kraft nicht besessen.«
Seine Stimme klang eindringlich, und obwohl Erica noch immer überzeugt war, daß das, was sie hier hörte, der Hoffnung zweier verzweifelter Menschen entsprang, konnte sie einen leisen Zweifel nicht abwehren. Wenn sie genau nachdachte, hatte sie gestern morgen, als sie das Badezimmer betrat, das Gefühl verspürt, daß irgend etwas nicht stimmte. Wenn man auf eine Leiche stieß, war natürlich etwas faul, aber trotzdem war die Atmosphäre des Raumes irgendwie merkwürdig gewesen. Man hatte den Eindruck einer Anwesenheit, eines Schattens. Besser konnte sie es beim besten Willen nicht beschreiben. Sie glaubte noch immer, daß Alexandra Wijkner von irgend etwas in den Selbstmord getrieben worden war, dennoch konnte sie nicht leugnen, daß das hartnäckige Insistieren des Ehepaars Carlgren sie nicht völlig unberührt ließ.
Ihr fiel plötzlich auf, wie sehr die erwachsene Alex im Aussehen ihrer Mutter geglichen hatte. Birgit Carlgren war klein und schlank, hatte dasselbe hellblonde Haar wie die Tochter, doch statt Alex’ langer Mähne trug sie einen eleganten kurzen Pagenschnitt. Jetzt war sie ganz in Schwarz gekleidet, und trotz ihrer Trauer schien sie sich ihrer auffallenden Erscheinung bewußt, die auf dem Kontrast zwischen Hell und Dunkel beruhte. Kleine Gesten offenbarten ihre Eitelkeit. Die Hand, die vorsichtig über die Frisur strich, der Kragen, der perfekt gerichtet wurde. Erica erinnerte sich, daß Birgits Garderobe für sie als Achtjährige, die sich im Verkleidungsalter befand, das reinste Mekka gewesen war, und das Schmuckkästchen hatte beide Mädchen dem Himmel auf Erden so nahe gebracht, wie sie ihm in jener Zeit überhaupt kommen konnten.
Neben Birgit sah ihr Gatte äußerst alltäglich aus. Keineswegs unattraktiv, aber dennoch unauffällig. Er hatte ein schmales, längliches Gesicht, in dem feine Linien eingeritzt waren, und der Haaransatz hatte sich weit den Scheitel hinaufgeschoben. Auch Karl-Erik war ganz in Schwarz gekleidet, doch im Unterschied zu seiner Frau wirkte er dadurch noch grauer. Erica spürte, daß es an der Zeit war aufzubrechen. Sie fragte sich, was sie mit diesem Besuch eigentlich bezwecken wollte. Sie erhob sich, und dasselbe taten die Carlgrens. Birgit schaute ihren Mann auffordernd an, ermahnte ihn mit dem Blick, etwas zu sagen.
»Wir hätten gern, daß du einen Nachruf für Alex schreibst. Einen Artikel, der in der >Bohuslän Tidning< veröffentlicht werden soll. Über ihr Leben, ihre Träume - und ihren Tod. Eine Wertschätzung ihrer Person, das würde Birgit und mir ungeheuer viel bedeuten.«
»Aber wollt ihr es nicht lieber in die >Göteborgsposten< setzen? Ich meine, dort in der Stadt hat sie doch gewohnt? Und ihr wohnt ja auch dort.«
»Fjällbacka war und wird immer unser Zuhause sein. Und das galt auch für Alex. Du kannst als erstes mit ihrem Mann Henrik reden. Wir haben mit ihm gesprochen, und er steht zur Verfügung. Du bekommst selbstverständlich eine Vergütung all deiner Auslagen.«
Damit hielten sie offenbar das Gespräch für beendet. Ohne den Auftrag eigentlich akzeptiert zu haben, stand Erica, als die Haustür hinter ihr ins Schloß fiel, auf der Vortreppe und hielt Henrik Wijkners Telefonnummer und Adresse in der Hand. Obwohl sie, wenn sie ehrlich sein sollte, diesen Auftrag eigentlich nicht hatte annehmen wollen, begann ein Gedanke in ihr zu keimen, der der Gedanke einer Autorin war. Erica verjagte ihn und fühlte sich als schlechter Mensch, weil sie ihn überhaupt zugelassen hatte, aber er war hartnäckig und weigerte sich zu verschwinden. Der Stoff zu einem eigenen Buch, nach dem sie so lange gesucht hatte, lag direkt vor ihr. Die Geschichte über den Weg eines Menschen ins Verhängnis. Die Erklärung, was es war, das eine junge, schöne und offenbar privilegierte Frau in den selbstgewählten Tod trieb. Ja, natürlich würde Alex’ Namen nicht fallen, aber es wäre eine Geschichte, die auf dem basierte, was sie über ihren Weg in den Tod in Erfahrung bringen würde. Erica hatte bislang vier Bücher publiziert, aber es hatte sich um Biographien großer Autorinnen gehandelt. Den Mut, eigene Geschichten zu schreiben, hatte sie noch immer nicht aufbringen können, aber sie wußte, daß in ihr ganze Bücher darauf warteten, aufs Papier gebracht zu werden. Diese Sache hier könnte vielleicht den Anstoß geben, die Inspiration sein, nach der sie so
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