Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
Greisinnen boten ihre letzten Kräfte auf, um zu hören, was das Schicksal für sie bereithielt. Der größte Teil der hier Versammelten bestand aus alten Menschen – gestützt auf dünne Stöcke oder auf die Arme ihrer Kinder. Oder aus jungen Menschen mit ihren Kindern, die sie fest an der Hand hielten. Oder aus den Kindern selbst.
    Mit gesenkten Köpfen, die Gesichter von Sorge entstellt, mit verquollenen Augen und vor Weinen wie erstickt, glichen all diese Menschen – alle fünfzehnhundert hier auf dem Platz Versammelten – einer Stadt, einem Gemeinwesen in seinem letzten Stündlein; unter der Sonne ihren Ältesten und ihren Untergang erwartend.
     
    Józef Zelkowicz:
In jejne koschmarne teg
    (In jenen schrecklichen Tagen, 1944)
    *
    An diesem Nachmittag war das Getto vollständig auf den Beinen.
    Obwohl die Leibwächter den größten Teil des Mobs auf Abstand halten konnten, war es ein paar grinsenden Flegeln gelungen, den Wagen zu entern. Er hatte sich ans Verdeck zurückgelehnt, nicht fähig, wie sonst mit dem Stock nach ihnen zu schlagen. Es war, wie böswillige Zungen schon seit längerem hinter seinem Rücken raunten: Mit ihm war es vorbei, seine Zeit als Getto-Präses war zu Ende. Im Nachhinein würden sie von ihm sagen, er sei ein falscher
schofet
gewesen, der die falschen Beschlüsse gefasst habe, ein
eved hagermanim
, der keinesfalls für das Beste seines Volkes gesorgt, sondern allein die eigene Macht und den eigenen Vorteil im Auge gehabt habe.
    Dennoch war es ihm nie um etwas anderes als das Beste des Gettos gegangen.
    Herr, wie kannst du mir das nur antun?, dachte er.
    Bei seiner Ankunft am Feuerwehrplatz warteten die Menschen bereits dichtgedrängt unter der glutheißen Sonne. Sie mussten seit Stunden hier gestanden haben. Sobald sie die Leibwächter erblickten, warfen sie |16| sich wie eine Meute wildwütiger Tiere auf ihn. Im Vordergrund bildeten Polizisten eine Kette, hieben und prügelten mit Schlagstöcken auf die Menschenmassen ein, um sie zurückzutreiben. Doch genügte das nur schwerlich. Grinsende Gesichter blickten den Polizisten noch immer über die Schultern.
    Es war festgelegt, Warszawski und Jakobson als Erste reden zu lassen, während er selbst noch im Schatten des Podiums warten sollte, um den Schmerz über die harten Worte, die er ihnen würde mitteilen müssen, tunlichst zu lindern. Doch wenn es dann erst Zeit für ihn war, die provisorische, eigens errichtete Rednertribüne zu besteigen, gab es keinen Schatten mehr und auch kein Podium: nur einen simplen Stuhl auf einem wackeligen Tisch. Auf diesem schwankenden Grund würde er dann stehen müssen, während die widerwärtige schwarze Masse ihn aus der Schattentiefe des Platzes begaffte und verhöhnte. Er fühlte Entsetzen vor diesem wabernden Dunkelkörper, ein Entsetzen, das nichts von alledem glich, was er je zuvor empfunden hatte. Genauso, das wurde ihm nun klar, mussten es auch die Propheten empfunden haben, als sie vor ihr Volk traten; Hesekiel, der aus dem belagerten Jerusalem,
der Blutstadt
, über die Notwendigkeit sprach, den Ort von allem Übel und allem Unrat zu reinigen und jenen ein Zeichen auf die Stirn zu drücken, die sich noch immer zum rechten Glauben bekannten.
    Dann sprach Warszawski:
     
    Gestern erhielt der Präses die Order, mehr als zwanzigtausend Menschen zu evakuieren … darunter unsere Kinder und unsere Allerältesten.
    Wie seltsam sich doch die Schicksalswinde drehen. Wir alle kennen unseren Präses!
    Wir wissen, wie viele Jahre seines Lebens, wie viel seiner Kraft, seiner Arbeit und Gesundheit er der Erziehung und dem Gedeihen jüdischer Kinder gewidmet hat.
    Und nun verlangt man ausgerechnet das von ihm, von IHM unter allen Menschen …
    *
    |17| Oft hatte er sich vorgestellt, dass es möglich wäre, ein Gespräch mit den Toten zu führen. Nur jene, die bereits dem Eingesperrtsein entkommen waren, konnten sagen, ob er recht gehandelt hatte oder unrecht, als er diejenigen gehen ließ, für die es dennoch kein anderes Leben gegeben hätte.
    In der ersten schweren Zeit – als die Behörden soeben mit den Deportationen begonnen hatten – ließ er stets den Wagen vorfahren, um die Begräbnisstätte in Marysin zu besuchen.
    Endlose Tage Anfang Januar oder im Februar, als die Ebene um Łódź, die gewaltigen Kartoffel- und Rübenäcker, in feuchtkalte bleiche Nebelschleier gehüllt lag. Nach einer Ewigkeit war dann der Schnee geschmolzen und der Frühling ins Land gezogen, die Sonne stand so tief überm

Weitere Kostenlose Bücher