Die Elenden von Lódz
fuchtelt mit den Armen, versucht wieder auf die Füße zu kommen, fällt jedoch abermals; und um ihn herum klatschen die Steine ins Wasser. Er sieht, die Würfe sind so gerichtet, dass sie ihn zur tiefen Flussrinne treiben. In dem Augenblick, als er begreift – sie wollen, dass er stirbt –, erfasst ihn Panik. Noch heute weiß er nicht genau, wie er es geschafft hat, doch indem er das Wasser mit einem Arm wegschlägt, den anderen zum Schutz über den Kopf hält, gelingt es ihm irgendwie, ans Ufer zu |26| kommen, die Beine in die Hand zu nehmen und sich hastig humpelnd davonzumachen, gefolgt von einem Steinhagel.
Hinterher musste er mit dem Rücken zur Klasse stehen, während ihn Stromka mit dem Stock verprügelte. Fünfzehn heftige Hiebe auf Hinterteil und Schenkel, die dort, wo die Steine getroffen hatten, bereits blau und geschwollen waren. Nicht, weil er dem Unterricht ferngeblieben war, sondern weil er seine Kameraden verleumdet hatte.
Doch woran er sich im Nachhinein erinnern sollte, war nicht die Denunziation und die Strafe, sondern der Augenblick, als die lächelnden Kindergesichter am Fluss urplötzlich zur hasserfüllten Mauer wurden und er begriffen hatte, dass er wie in einem Käfig feststeckte. Ja, immer wieder würde er (auch vor »seinen eigenen« Kindern) auf diesen offenen Käfig zu sprechen kommen, durch dessen Gitterstäbe unablässig Steine geworfen oder Stöcke nach ihm gestoßen wurden, und darauf, dass er gefangen war, nirgendwo hinkonnte und nichts zu tun vermochte, um sich zu schützen.
|27| Wann beginnt die Lüge?
Die Lüge, so sagte Rabbi Fajner stets, hat keinen Anfang. Die Lüge verläuft wie ein Wurzelgeflecht in endlosen Verzweigungen nach unten. Doch folgt man den Wurzelfasern in die Tiefe, findet man nirgendwo einen Augenblick der Eingebung oder Einsicht, nur übermächtige Verzweiflung und Panik.
Die Lüge beginnt stets mit dem Leugnen.
Etwas ist geschehen – dennoch will man sich nicht eingestehen, dass es geschehen ist.
So beginnt die Lüge.
*
Am selben Abend, als die Behörden ohne sein Wissen beschlossen, die Alten und Kranken des Gettos zu deportieren, hatte er zusammen mit seinem Bruder Józef und seiner Schwägerin Helena das Kulturhaus besucht, um die vor einem Jahr erfolgte Gründung der Gettofeuerwache zu feiern. Am Tag darauf war es genau drei Jahre her, dass Deutschland in Polen eingefallen war und der Krieg und die Okkupation begonnen hatten. Das aber feierte man selbstverständlich nicht.
Die Soiree wurde mit einigen musikalischen Impromptus eingeleitet; danach folgten ein paar Stücke aus Mojsze Pulavers »Gettorevue«, die just an diesem Tag bereits ihre hundertste Aufführung hatte.
Der Älteste fand Musikvorstellungen insgesamt äußerst anstrengend. Das totenbleiche Fräulein Bronisława Rotsztad krümmte sich um ihre Violine, als würden sie ein ums andere Mal elektrische Stöße durchfahren. Fräulein Rotsztads musikalische Gefühlsausbrüche wurden indes von den Frauen hoch geschätzt. Anschließend waren die Zwillingsschwestern Schum an der Reihe. Ihr Auftritt hatte stets ein und |28| denselben Ablauf. Zunächst schauten sie fromm in die Runde und knicksten. Dann stürzten sie hinter die Kulissen und erschienen als die jeweils andere wieder. Da sie einander bis aufs I-Tüpfelchen glichen, war das natürlich kein Problem. Sie tauschten nur ihre Kleider. Dann verschwand eine von ihnen – und die andere suchte nach ihrer Schwester. In Koffern und Kisten suchte sie. Dann tauchte die Verschwundene auf und begann nach derjenigen zu suchen, die zuvor auf der Suche gewesen (und jetzt ihrerseits verschwunden) war, vielleicht aber hatte auch dieselbe Schwester die ganze Zeit gesucht.
Alles war sehr verwirrend.
Dann trat Herr Pulaver selbst auf die Bühne und erzählte
plotki
.
Einer der Witze handelte von zwei Juden, die sich auf der Straße begegneten. Der eine kam aus Insterberg. Der andere fragte: Was Neues aus Insterberg? Der erste erwiderte: Nichts. Der andere: Überhaupt nichts? Der erste:
A hintel hot gebilt.
Ein Hund hat gebellt.
Das Publikum lachte.
Der zweite:
Hat ein Hund in Insterberg gebellt? Ist das alles, was passiert ist?
Der erste:
Was weiß ich. Anscheinend sind eine Menge Leute zusammengekommen.
Der zweite:
Sind eine Menge Leute zusammengekommen? Und ein Hund hat gebellt? Ist das alles, was in Insterberg passiert ist?
Der erste:
Man hat deinen Bruder festgenommen.
Der zweite:
Hat man meinen Bruder festgenommen.
Weitere Kostenlose Bücher