Die Elfen des Sees
atmend hervor. »Er … er lebt. Wer etwas anderes behauptet, der lügt. Dirair ist verschollen, aber er ist nicht tot!«
»Die Wahrheit anzunehmen, besonders wenn sie so tragisch ist, erfordert Mut«, erwiderte die Hohepriesterin ruhig. »Du bist sehr stark in deinem Willen, aber du kannst das, was geschehen ist, nicht ewig verleugnen.«
»Er ist nicht tot, das weiß ich.« Lya-Numi schnappte nach Luft. Dass es seit mehr als zwei Mondläufen kein Lebenszeichen von Dirair gab, konnte viele Gründe haben. An seinen Tod würde sie erst dann glauben, wenn man ihn gefunden hatte. »Er kommt zu mir zurück.«
Die Hohepriesterin schüttelte den Kopf und sagte bedauernd: »Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, Lya-Numi, aber du verrennst dich da in etwas. Glaube mir, ich weiß, wie es ist, wenn man sich an eine Hoffnung klammert, die schon längst keine mehr ist. Wenn man die Wahrheit verleugnet, weil man sich vor dem Schmerz fürchtet, den sie mit sich bringt. Aber ich weiß auch, dass es der falsche Weg ist. Die Gütige Göttin fragt nicht, ob es uns recht ist, Abschied zu nehmen. Sie entscheidet. Wir müssen uns damit abfinden und versuchen, die Asche des Vergangenen abzuschütteln, um einen neuen Anfang zu finden.« Sie machte eine kurze Pause und sagte dann mit derselben schonungslosen Offenheit, mit der sie auch schon am Graslandsee zu Lya-Numi gesprochen hatte: »Er ist tot, meine Tochter. Die Zukunft, von der du träumst, wird es niemals geben.«
»Das sagt Ihr nur, weil Ihr wollt, dass ich hierbleibe«, stieß Lya-Numi mühsam beherrscht hervor. »Oder habt Ihr doch eine Nachricht von meinem Bruder erhalten?«
»Nein, ich habe keine Nachricht erhalten. Ich sage das, weil ich nicht länger mit ansehen kann, wie du dich quälst.« Die Hohepriesterin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Unerfüllbare Sehnsüchte machen krank. Nur wer den Mut hat, sich der Trauer zu stellen und sie auszuhalten, ist bereit für ein neues, ein freies Leben.« Sie seufzte, nickte dann und fuhr etwas sanfter fort: »Natürlich möchte ich, dass du bleibst. Es wäre gelogen, wenn ich etwas anderes behaupten würde. Aber ich sehe mit großem Bedauern, dass du nicht fähig bist, frei zu entscheiden, solange dein Herz im Grasland weilt.«
Lya-Numi biss sich auf die Unterlippe, senkte den Blick und schwieg. Sie wusste, dass sie etwas erwidern musste, fühlte sich der erfahrenen Hohepriesterin aber nicht gewachsen. Für alle, die nicht betroffen waren, war es so einfach. Auch ihre Mutter hatte sie immer wieder beschworen, vernünftig zu sein und den Tatsachen ins Auge zu blicken. »Sieh nach vorn, Kind, und nicht zurück«, hatte sie gesagt. Lya-Numi aber hatte nur auf ihr Herz gehört und sich aller Vernunft verschlossen. Als der Suchtrupp Dirairs getötete Freunde ins Dorf gebracht hatte, hatte sie die Trauer und den Schmerz der Angehörigen eifersüchtig, aber auch erleichtert beobachtet. Einerseits war sie froh gewesen, noch hoffen zu dürfen, andererseits hatte sie die Ungewissheit mit jedem Sonnenlauf, der verstrich, mehr und mehr als Last empfunden und sich nichts sehnlicher gewünscht, als endlich die Wahrheit zu kennen.
»Nicht die Hoffnung ist es, die mich quält«, räumte sie ein, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte. »Es ist die Ungewissheit. Solange diese nicht ausgeräumt ist, ist es grausam, mir die Hoffnung zu nehmen.«
»Du suchst Beweise?«
»Ja.« Lya-Numi nickte.
»Hilft es dir, wenn ich dir sage, dass ich in einer Vision gesehen habe, was geschah?«, fragte Gilraen.
»Nein.« Lya-Numi schüttelte den Kopf. »Solche Visionen hatte ich im Grasland auch. Immer und immer wieder sah ich im Traum, wie Dirair mit seinem Speer gegen einen Quarlin kämpfte – und verlor. Aber das hat nichts zu bedeuten. Ich weiß, dass Visionen sich leicht von unseren Sorgen, Nöten und Wünschen beeinflussen lassen. Wenn wir nach etwas suchen, zeigen sie uns oft nur das, was wir sehen wollen oder befürchten. Nicht, was wirklich geschah.«
»Für eine Novizin, die ihre Gefühle noch nicht zu zähmen gelernt hat, mag das zutreffen. Eine erfahrene Priesterin hingegen weiß das zu umgehen«, sagte die Hohepriesterin. »Aber ich verstehe dein Misstrauen und möchte dich nicht weiter quälen. Du hast dich entschieden, zu hoffen und zu warten. Das ist dein gutes Recht, und ich will dich nicht weiter bedrängen. Nur eines möchte ich noch von dir wissen.«
»Was?«
»Würdest du hier im Tempel leben wollen, wenn Dirair nicht
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