Die Elfen des Sees
er niemals von den giftigen Blutbeeren gegessen.
Die Priesterin hingegen … Lya-Numi stockte der Atem, als sie die bleiche und kraftlose Gestalt ihrer Lehrmeisterin in den Armen der Novizinnen sah. Nun endlich verstand sie, was Elwren gemeint hatte: Das Gift, das den Jungen fast getötet hätte, wütete nun im Körper der Priesterin. Lya-Numi keuchte auf, als sie begriff, welch selbstloses Opfer die Priesterin gebracht hatte, um ein Kind der Menschen zu retten.
Auf der anderen Seite teilte sich die Gruppe der Umstehenden gerade so weit, dass sich eine Gasse bildete. Irgendjemand musste mittels Gedankensprache Hilfe gerufen haben, denn zwei Priesterinnen kamen mit einer Trage herbeigeeilt, betteten die Besinnungslose darauf und brachten sie in den Tempel.
»Wird sie sterben?«, fragte Lya-Numi besorgt.
»Nein.« Elwren schüttelte den Kopf. »Sie wird eine Weile sehr krank sein, aber was zählt das schon, wenn man ein Leben gerettet hat?«
Nur wenige Sonnenläufe nach dem Vorfall im Kräutergarten wurde Lya-Numi zur Hohepriesterin gerufen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie der Bediensteten, die gekommen war, sie zu holen, durch die Gänge und Gärten des Tempels folgte. Nicht einen Augenblick gestattete sie sich, daran zu zweifeln, dass die lang ersehnte Nachricht ihres Bruders endlich eingetroffen war – dass Dirair lebte.
Gilraen erwartete sie in einem der Räume, in dem sie ihre Gäste empfing. Als Lya-Numi eintrat, erhob sich die Hohepriesterin, begrüßte sie und führte sie zu einem mit blauem Samt gepolsterten Stuhl, dessen Holz kunstvoll geschnitzte Efeuranken zierten. Lya-Numi nahm Platz und wartete voller Ungeduld, bis auch Gilraen sich gesetzt hatte. »Gibt es Neuigkeiten von meinem Bruder?«, fragte sie gespannt, auch wenn sie wusste, dass es als unhöflich galt, wenn der Gast zuerst die Stimme erhob.
»Ich habe nichts von ihm gehört.« Gilraen schüttelte bedauernd den Kopf.
»Aber Ihr … Ihr habt nach mir verlangt.« Lya-Numis Stimme drohte vor Enttäuschung zu versagen. Sie war sich so sicher gewesen, endlich Gewissheit zu erlangen. So sicher …
»Ja, das habe ich. Aber aus einem anderen Grund.« Gilraen nickte und fuhr, ohne auf Lya-Numis Enttäuschung einzugehen, in der ihr eigenen, direkten Art fort: »Du bist nun schon einige Sonnenläufe bei uns. Ich möchte wissen, wie es dir hier gefällt.«
Lya-Numi biss sich auf die Unterlippe und versuchte den Sturm von Gefühlen zu bändigen, der hinter ihrer Stirn tobte. Dass ihr Bruder sich nicht gemeldet hatte, hatte nichts zu bedeuten. Gar nichts. Es war besser, keine Nachricht zu erhalten als eine schlechte, versuchte sie sich zu trösten. Und es war das gute Recht der Hohepriesterin, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Sie hatte gewusst, dass diese Frage irgendwann einmal kommen würde, aber nicht zu diesem frühen Zeitpunkt damit gerechnet. Sie mochte die Sümpfe und die strengen Regeln im Tempel immer noch nicht, aber anders als bei ihrer Ankunft hatte sie inzwischen auch so viel Beeindruckendes erfahren, dass es ihr immer schwerer fiel, das Leben hier rundweg abzulehnen.
Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Priesterinnen schien keine Grenzen zu kennen, wie sie an dem Leid des kleinen Menschenjungen gesehen hatte, und was sie allein in den wenigen Sonnenläufen gelernt hatte, übertraf ihre kühnsten Erwartungen. Tief in sich spürte sie bereits den leisen Wunsch aufkeimen, sich den Priesterinnen anzuschließen, aber ihr Herz war nicht frei, und der Entschluss, ins Grasland zurückzukehren, nach wie vor unumstößlich.
»Alle sind sehr freundlich zu mir«, erklärte sie, nachdem sie sich so weit gefasst hatte, dass ihre Stimme ruhig klang. »Ich habe Freude am Kre-An-Sor und bin beeindruckt von den Möglichkeiten der Heilkunst, die hier im Tempel gelehrt wird. Das alles ist so spannend und neu für mich, dass ich es fast bedauere, nicht länger bleiben zu können. Dennoch werde ich meinen Entschluss, ins Grasland zurückzukehren, nicht ändern. Mein Platz ist, wo meine Wurzeln sind. Bei meiner Familie.« Sie stockte kurz und fügte mit fester Stimme, fast trotzig hinzu, was sie bisher nicht ausgesprochen hatte: »… und bei Dirair, meinem Gefährten.«
Die Hohepriesterin bedachte sie mit einem langen traurigen Blick. Dann seufzte sie und sagte sehr sanft: »Er ist tot, Lya-Numi.«
»Nein!« Die junge Elfe spürte, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht schoss. »Nein, das ist er nicht!«, stieß sie heftig
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