Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Enden der Parabel

Titel: Die Enden der Parabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pynchon
Vom Netzwerk:
hinein in die Straßen oder das, was als Straßen dient. Immer wieder kommen Patrouillen der verschiedensten Nationalitäten vorbei, und jedesmal muß sich das kopflose Quartett in den Dreck werfen und versuchen, dabei nicht allzulaut zu lachen. Slothrops Socken saugen sich voll mit Feuchtigkeit. Panzer manövrieren in den Straßen, fressen parallele Furchen aus Asphalt und Steinstaub frei. Trolle und Dryaden spielen in den Ruinenlücken. Einst im Mai hat es sie aus Brücken und Bäumen in die Freiheit hinausgesprengt, wo sie inzwischen längst verstädtert sind. "So 'ne Trantüte", sagen Trollbackfische von Langsamschaltern, "der steckt noch rundherum im Baum." Verstümmelte Statuen liegen in mineralischer Betäubung: marmorne Bürokratentorsi in Gehröcken erbleicht in den Rinnsteinen. Tja, hm, da sind wir nun im Herzen von Berlin, und wirklich Herr im Himmel, was ist das
    "Paßt lieber auf", rät Säure, "es ist wie Gummi hier." "Was ist das?"
    Tja, es ist - was heißt "ist"? -, ist King Kong, oder ein naher Verwandter, breit hingehockt, anscheinend gerade, beim, Scheißen, mitten auf der Straße! und überhaupt! und ohne daß die russischen Soldaten sich drum scheren, die auf einem Laster nach dem anderen mit ihren Schiffermützen und benommenem Grinsen direkt an ihm vorbeirollen - "Hey!" will Slothrop rufen. "Hey, seht euch diesen Riesen-Affen! an oder was immer es ist. Ihr da? Hey ..." Aber er tut's nicht, zum Glück. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich das hockende Monster als das Reichstagsgebäude, zerbombt, gesprengt, vom Feuersturm pudrig geschwärzt an allen flammenseitigen Wölbungen und Überhängen, auf den hart widerhallenden, kohlenstoffbelegten Mauern weiß überkreidet mit kyrillischen Parolen und mit vielen Namen von im Mai gefallenen Genossen.
    Berlin hat noch mehr solcher Tricks auf Lager: Da hängt ein riesiger Buntdruck von Stalin, von dem Slothrop schwören könnte, daß er ein Mädchen darstellt, mit dem er sich in Harvard oft getroffen hat, Schnurrbart und Haare nichts weiter als ein verrücktes Make-up, verdammt wie war doch gleich ihr Name ... und noch ehe er das Durcheinanderschnattern der kleinen Stimmchen versteht - schnell, schnell, bringt sie in Position, gleich kommt er um die Ecke - liegen sie schon da, aufgereiht auf dem Pflaster, die großen Laibe aus Brotteig, die unter sauberen weißen Tüchern darauf warten, aufzugehen - Menschenskind! Wie ausgehungert sie alle sind: der Gedanke trifft sie gleichzeitig wie ein Schlag, wow! Roher Teig! Brotlaibe für dieses Ungetüm dort hinten ... ach ja, genau, das war ein Gebäude, der Reichstag, also ist das auch kein Brot... man sieht inzwischen, daß es menschliche Körper sind, Leichen, ausgegraben aus dem Schutt dieses Tages, alle in ihren sorgfältig beschrifteten GI-Flohsäcken. Dennoch war es mehr als eine optische Täuschung: Sie werden aufgehen, sich wandeln, und wer weiß, wenn der Sommer erst einmal vorbei und hungriger Winter eingezogen ist, wovon wir uns zu Weihnachten ernähren werden?
    Was die berüchtigte Femina für die Berliner Zigarettenschwarzmarktkreise, ist die Chicago für die Doper-Szene. Während aber die Femina normalerweise um die Mittagszeit ihren Betrieb aufnimmt, beginnt es in der Chicago erst nach Eintritt der Zehn-Uhr-Ausgangssperre hoch herzugehen. Slothrop, Säure, Trudi und Magda betreten die Bar durch einen Hintereingang in einem Gebirge aus Ruinen und Finsternis, in dessen Nachtlandschaft nur hier und da einsame Lichter brennen. Innen wimmelt es von Medical Officers und Sanitätern, die Flaschen voller flockigweißer, kristalliner Substanzen, klare Ampullen in der Größe von Glasmurmeln, kleine rosa Pillen umklammern. Besatzungsgeld und Reichsmarks knittern und flappen durch den Raum. Einige der Schieber sind ganz chemischer Enthusiasmus, andere ganz Geschäft. Die Wände sind mit großformatigen Photos von John Dillinger dekoriert, allein, mit seinen Kumpanen, seiner Mutter, seinem Maschinengewehr. Lichter und Debatten werden auf Sparflamme gehalten, für den Fall, daß draußen eine MP-Streife vorbeikommt.
    Auf einem Stuhl mit geflochtener Lehne sitzt ein amerikanischer Matrose vom Äußeren eines Orang-Utans und zupft mit klobigen, behaarten Händen friedlich auf einer Gitarre. In Dreivierteltakt und Country-Style singt er:
    DES DOPERS TRAUM. Mir träumte heut nacht, ich steckte tief drin In 'ner blubbernden Wasserpfeife, Aus der ganz plötzlich ein arabischer Dschinn Rausquoll und sich aufblies,

Weitere Kostenlose Bücher