Die Enden der Parabel
blanken Alabasters in der hellen Sonne, der zu füllen war mit den endlosen Reihen seiner Menschenernte, ohne die er keinen Sinn machte. Wenn es wirklich so etwas gibt wie eine zeichenhafte Stadt, eine Stadt, die sichtbares und äußeres Symbol ist von innerer und geistiger Krankheit oder Gesundheit, dann wirkt dieses Sakrament selbst hier noch fort, auf der furchtbaren Oberfläche des Mai. Die Leere von Berlin an diesem Morgen ist eine umgekehrte Projektion der weißen, geometrisierten Kapitale vor der Zerstörung - die fahlgelben, weitgestreckten Schutthalden, das gleiche Gewicht von zuviel nichtssagendem Beton ... außer, daß alles Innere an die Oberfläche gekehrt ist. Die schnurgeraden, zum Marschieren angelegten Boulevards sind jetzt gewundene Wege zwischen Trümmerhaufen, organisch im Verlauf, wie Ziegenpfade den Gesetzen des geringsten Widerstands gehorchend. Die Zivilisten sind jetzt draußen, die Uniformen innen. Die glatten Fassaden der Gebäude haben dem freigesprengten inneren Geröll des Betons Platz gemacht, dem kieseligen Rokoko unter seiner Haut. Innen ist außen. Deckenlose Zimmer öffnen sich dem Himmel, wandlose Räume schweben über dem Ruinenmeer wie Schiffssteven, Krähennester... Alte Männer mit Konservenbüchsen, die den Boden nach Zigarettenkippen absuchen, tragen ihre Lungen auf den Brüsten. Suchanzeigen nach Obdach, Kleidung, Gefallenen, Vermißten, einst unter Chiffren bürgerlich in Zeitungen gefaltet, um ungestört in eleganten und lackierten Wohnzimmern studiert zu werden, hängen jetzt, geklebt mit blauen, gelben, orangeroten Hitlermarken, offen im Wind, wenn der Wind weht, an Bäumen, Türrahmen, Bretterzäunen, Mauerresten - weiße und verbleichende Fetzen, spinnenhafte Schriften, zitternd, verschmiert,
Tausende übersehen, Tausende ungelesen oder fortgeweht. An den Eintopfsonntagen der Winterhilfe saß man draußen an den langen Tischen unter hakenkreuzbeflaggten winterlichen Bäumen, doch dieses Draußen ist jetzt drinnen, und diese Sonntage dauern die ganze Woche. Der Winter kommt zurück. Berlin verpraßt sein ganzes Tageslicht, um das zu leugnen. Zernarbte Bäume tragen wieder Blätter, Vogelkinder sind geschlüpft und lernen fliegen, doch der Winter ist schon da, hinter diesem sommerlichen Anschein - die Erde hat sich umgedreht in ihrem Schlaf, die Wendekreise sind vertauscht...
Als wären sie hinausverpflanzte Wände der Chicago-Bar, sind die Mauern der
Friedrichstraße plakatiert mit riesenhaften Photos - Gesichter, größer als ein Mensch.
Slothrop erkennt Churchill und Stalin, kein Problem, aber beim Dritten ist er sich nicht
sicher. "Wer ist der Typ mit Brille, Emil?"
"Der amerikanische Präsident, Mister Truman."
"Laß den Quatsch! Truman ist Vizepräsident. Roosevelt ist Präsident."
Säure hebt eine Augenbraue. "Roosevelt ist dieses Frühjahr gestorben. Ganz kurz
vor der Kapitulation."
Sie verstricken sich in eine Brotschlange. Frauen in blankgeschabten Plüschmänteln, kleine Kinder, die sich an ausgefranste
Säume klammern, Männer mit Mützen und dunklen, doppelreihigen Anzügen, unrasierte, alte Gesichter, die Stirnen weiß wie das Bein einer Krankenschwester ... Jemand versucht, sich Slothrops Umhang zu greifen, und es gibt ein kurzes Tauziehen.
"Tut mir leid", entbietet Säure, als sie sich befreit haben.
"Warum hat mir das keiner gesagt?" Slothrop ging in die High School, als FDR ins Weiße Haus einzog. Broderick Slothrop erklärte, den Mann zu hassen, doch der junge Tyrone fand ihn mutig, mit seiner Polio und so. Mochte auch seine Stimme im Radio. Einmal sah er ihn fast leibhaftig, in Pittsfield, aber Lloyd Nipple, der fetteste Knabe von Mingeborough, stand ihm im Weg, und so bekam Slothrop nur Räder und die Beine von irgendwelchen Kerlen in Anzügen auf dem Trittbrett zu sehen. Von Hoover hatte er gerade mal gehört, ganz dunkel - hatte was mit Barackenstädten oder Staubsaugern zu tun -, aber Roosevelt, das war sein Präsident, der einzige, der zu seinem Leben gehörte. Schien so, als würde er bis in alle Ewigkeit wiedergewählt werden, eine Amtsperiode nach der anderen, ohne Ende. Aber irgend jemand hatte wohl beschlossen, das zu ändern. So wurde er schlafen geschickt, Slothrops Präsident, ruhig und sauber, während das Kind, das einst versucht hatte, sich sein Gesicht auf dem T-Shirt zwischen Lloyds Schulterblättern vorzustellen, an der Riviera herumhing oder irgendwo in der Schweiz und sich selbst nur halb bewußt war, ebenfalls
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