Die Enden der Welt
so brütend wie sie selbst. Als ihren Schutzbefohlenen hatte sie ihn angenommen, seit man ihn unlängst mit einem Hirntumor eingeliefert hatte. In wolkigen Begriffen war ihm zuerst erklärt worden, dass er krank, sehr krank sei. Damit konnte er nicht viel anfangen, fühlte er doch weder Schmerzen noch andere Einschränkungen. Aber in der kurzen Zeit, die folgte, hatte er die Krankheit als inneren Adel angenommen, schritt nun mürrisch über die Flure und verlangte schleunigst seine Entlassung.
Am Tag meines Besuchs war Brigitta die Aufgabe zugefallen, dem Jungen die Wahrheit über seine Krankheit zu sagen. Sie hatte die Tür geschlossen, sich auf seine Bettkante gesetzt und das Wort »Krebs« in den Raum gestellt. Als Tom weiter ungerührt in ihr Gesicht stierte, hatte sie »unheilbar« gesagt, und als er sie immer noch ansah, als suche er in ihren Zügen eine Wegbeschreibung, als ihr also klar wurde, dass er mit ihrer Rührung so wenig wie mit allen Worten anfangen konnte, gab sie auch noch die letzte Information preis, die ihr die Ärzte mit auf den Weg gegeben hatten: Noch drei Monate würde er leben, mehr könne ihm kein Mensch versprechen.
Tom war ans Fenster gegangen und hatte die Fabrikate zweier Autos genannt, die inzwischen neu auf dem Parkplatz erschienen waren, und Brigitta verließ den Raum. Als sie an dieser Stelle der Erzählung angekommen war und sich gerade die Tränen mit den Knöcheln aus den Augen wischte, öffnete sich die Tür, der Junge erschien in seinem Pyjama und stellte verstockt und vorwurfsvoll fest:
»Mir ist langweilig!«
Kein Satz hätte in diesem Moment tiefer fallen können, und so fühlte ich mich augenblicklich für den Jungen verantwortlich. Ich dachte an die unbetretene Schneefläche, vor der wir am Mittag umgedreht waren, nahm Tom bei der Schulter, führte ihn in sein Zimmer und legte mich neben ihn auf sein Bett. Solidarisch blickten wir zur Zimmerdecke hinauf. Wie viel ungenutzte Wirklichkeit – die Landschaften, die Schwimmbäder, die Klamotten, die Jahrmarktgeräte, die Theater –, was stand nicht alles zur Verfügung und würde bis an sein Lebensende vergeblich existieren, da er das alles doch niemals kennenlernen sollte. Wir lagen auf seinem Totenbett, und ich wusste nicht: Wäre es besser, ihn in der engen Welt seiner Wirklichkeit zu lassen, oder sollte ich versuchen, ihm Fenster aufzustoßen und die Welt weit zu machen? Sollte ich sagen, dass er nichts verpassen werde, oder sollte ich ihm ersetzen wollen, was immer fehlen würde?
Sein Leben – von einer Lebensreise konnte man ja kaum sprechen – ging zu Ende, und ich fragte mich: Wohin wäre er gereist? Wo angekommen? Was hätte ihn getrieben? Was hätte er allein erfahren? Wo wäre ihm zugestoßen, was man eine »Selbstbegegnung« nennt? In einem Raum voll feuchtwarmer Luft vielleicht, unterlegt mit den Geräuschen von Autohupen, kalt blasenden Klimaanlagen, kleinen Rum-Räuschen? Welche Bilder hätte die Erinnerung versammelt: lange bunte Fingernägel, die Neigung eines Kopfes, der sich auf einem Arm ablegt? Vielleicht wäre er aus dem Warten hinausgereist, dem Schweigen, der freien Bewegung, dem geborgten Selbstverlust, einem anderen Zeitgefühl entgegen.
So lagen wir nebeneinander auf dem Krankenhausbett und blickten diese kalkweiße Decke an, das monotone und vermutlich letzte Bild, das sein Bewusstsein erreichen würde.
»Komm, wir reisen«, sagte ich.
»Wohin?«
»Wohin du willst.«
»Wirklich?«
»So wirklich, wie es geht.«
Diese Einschränkung musste sein, denn plötzlich fand ich mich an der Stelle aller von Phobien, Idiosynkrasien, Zwangsvorstellungen und Marotten geplagten Stubenhocker und stellte mir deren Grundfrage: Wie ist unter der Voraussetzung des Reisens ein Zuhausebleiben möglich? Also erzählte ich Tom von dem Dänen Sören Kierkegaard, der mit dem Vater im Wohnzimmer die Sonntagsmittagsspaziergänge nachstellte, die sie in der Stadt hätten wirklich machen können. Sie grüßten die Bürger rechts und links, dachten sich kleine Konversationen aus, staunten vor einem neuen Gebäude.
Ich erzählte Tom von Xavier de Maistre, einem französischen General, der 1790 wegen eines Duells zum Stubenarrest verurteilt worden war, weshalb er nicht mehr wie früher schon einmal mit der Montgolfière entkommen konnte.
»Was ist eine Montgolfière?«
»In Freiheit hätte er einen Ballon bestiegen und wäre auf und davon gewesen. So ist er stattdessen durch sein Zimmer gereist und hat die
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