Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
Fjällbacka und Umgebung hatte man sich die wildesten Geschichten über das erzählt, was Ebbas Familie zugestoßen war.
»Außer …« Mårten warf Ebba einen fragenden Blick zu, doch die schien nicht zu wissen, worauf er hinauswollte. Er sah sie durchdringend an. »Das Einzige, was mir dazu einfällt, sind die Glückwunschkarten.«
»Glückwunschkarten?«, fragte Martin.
»Seit ihrer Kindheit bekommt Ebba zu jedem Geburtstag eine Karte von jemandem, der nur mit G unterschreibt. Ihre Adoptiveltern haben nie herausbekommen, wer dahintersteckte. Die Glückwunschkarten kamen auch noch, nachdem sie von zu Hause ausgezogen war.«
»Hat Ebba denn auch keine Ahnung, wer ihr die Karten schreibt?«, fragte Patrik. Erst dann fiel ihm auf, dass er über sie redete, als ob sie nicht anwesend wäre. An sie gewandt wiederholte er: »Sie haben nicht die geringste Vermutung, wer Ihnen diese Karten geschickt haben könnte?«
»Nein.«
»Und Ihre Adoptiveltern? Sind Sie sicher, dass die nichts wissen?«
»Die wissen es auch nicht.«
»Hat dieser G denn jemals versucht, auf andere Weise Kontakt zu Ihnen aufzunehmen, oder Sie vielleicht bedroht?«
»Nein, niemals. Oder, Ebba?« Mårten bewegte eine Hand in Ebbas Richtung, als wollte er sie berühren, ließ die Hand jedoch wieder sinken.
Sie schüttelte den Kopf.
»Jetzt kommt Torbjörn.« Martin zeigte auf den Pfad.
»Gut, dann machen wir hier Schluss, damit Sie beide sich ausruhen können. Ein Arzt ist unterwegs. Sollte er Sie mit ins Krankenhaus nehmen wollen, würde ich Ihnen raten, auf ihn zu hören. Solche Dinge darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
»Danke.« Mårten stand auf. »Melden Sie sich, wenn Sie mehr wissen.«
»Machen wir.« Patrik warf Ebba einen letzten besorgten Blick zu. Sie wirkte immer noch wie unter einer Glasglocke. Er fragte sich, welche Spuren die Tragödie in ihrer Kindheit hinterlassen hatte, zwang sich dann aber, den Gedanken fallenzulassen. Er musste sich auf die bevorstehende Arbeit konzentrieren und eventuell einen Brandstifter finden.
Fjällbacka 1912
D agmar verstand noch immer nicht, wie es dazu gekommen war. Sie hatte alles verloren und war vollkommen allein. Überall tuschelten die Leute hinter ihrem Rücken. Sie hassten sie für das, was Mutter getan hatte.
Nachts hatte sie manchmal so große Sehnsucht nach Mutter und Vater, dass sie ins Kissen beißen musste, um nicht laut loszuheulen, denn sonst hätte die alte Hexe, bei der sie wohnte, sie grün und blau geschlagen. Immer konnte sie ihre Schreie jedoch nicht unterdrücken. Manchmal lastete der Nachtmahr derart schwer auf ihr, dass sie schweißgebadet aufwachte. In ihren Alpträumen sah sie die abgeschlagenen Köpfe ihrer Eltern vor sich, denn die waren am Ende hingerichtet worden. Dagmar war nicht dabei gewesen, die Bilder aber hatten sich in ihre Netzhaut gebrannt.
Manchmal verfolgten sie im Traum auch die Kinder. Acht Säuglinge habe die Polizei unter dem Kellerfußboden gefunden, hatte die alte Hexe gesagt. »Acht arme kleine Kinder«, sagte sie kopfschüttelnd, sobald jemand zu Besuch kam. Ihre Freundinnen warfen Dagmar feindselige Blicke zu. »Das Mädchen muss davon gewusst haben«, sagte sie. »Klein, wie sie war, wird sie doch begriffen haben, was da vor sich ging.«
Dagmar ließ sich nicht einschüchtern. Es war egal, ob es stimmte oder nicht. Mutter und Vater hatten sie geliebt, und diese schmutzigen kleinen Kinder, die so laut brüllten, wollte sowieso niemand haben. Deshalb waren sie ja bei ihrer Mutter gelandet. Die hatte sich jahrelang abgerackert, und zum Dank dafür, dass sie sich um die ungewollten Kinder kümmerte, war sie verhöhnt, erniedrigt und umgebracht worden. Vater erging es genauso. Weil er Mutter geholfen hatte, die Kinder zu begraben, fand man, er hätte ebenfalls den Tod verdient.
Nachdem die Polizei Mutter und Vater festgenommen hatte, war Dagmar zu der alten Hexe gebracht worden. Niemand aus dem Kreis der Verwandten und Freunde nahm sie bei sich auf. Mit dieser Familie wollte keiner mehr etwas zu tun haben. Die Engelmacherin aus Fjällbacka – so nannte man ihre Mutter seit dem Tag, an dem die kleinen Skelette entdeckt worden waren. Inzwischen wurden sogar Lieder über sie gesungen. Über die Kindsmörderin, die kleine Kinder in einer Wanne ertränkt, und ihren Mann, der sie im Keller begraben hatte. Dagmar kannte diese Lieder auswendig, denn die Bälger ihrer Pflegemutter sangen sie bei jeder Gelegenheit.
All das konnte sie
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