Die Engelmacherin: Kriminalroman (German Edition)
schon entlanggelaufen waren. Das Gebäude wurde immer noch als Ferienheim bezeichnet, obwohl es schon seit den dreißiger Jahren nicht mehr als solches diente.
»Pass auf!« Mårten zeigte auf ein paar Baumwurzeln auf dem Weg.
Seine Fürsorglichkeit, die sie eigentlich hätte rühren müssen, kam ihr vor allem einengend vor. Demonstrativ trat sie auf die Wurzeln. Nach wenigen Metern fühlte sie groben Sand unter den Füßen. Die Wellen schlugen gegen den langgezogenen Strand. Sie ließ das Handtuch fallen und marschierte geradewegs in das salzige Wasser. Algenbüschel streiften ihre Beine, und die plötzliche Kälte ließ sie nach Luft schnappen, doch bald genoss sie die Abkühlung. Hinter sich hörte sie Mårten rufen. Sie tat, als würde sie ihn nicht hören, und ging weiter hinaus ins Tiefe. Als der Boden unter ihren Füßen verschwand, schwamm sie los und erreichte nach wenigen Zügen das kleine Badefloß, das ein Stück weiter draußen verankert war.
»Ebba!« Mårten rief vom Strand nach ihr, aber sie ignorierte ihn noch immer und griff nach der Leiter. Sie brauchte einen Moment für sich allein. Wenn sie sich hinlegte und die Augen schloss, konnte sie sich vorstellen, sie wäre eine Schiffbrüchige irgendwo auf dem Ozean. Ganz allein. Eine Frau, die auf niemanden Rücksicht nehmen musste.
Sie hörte das gleichmäßige Platschen eines Schwimmers neben sich. Das Floß schaukelte, als Mårten die Leiter hinaufstieg. Sie kniff die Augen noch fester zu, um sich noch eine Weile von ihm abzuschotten. Sie wollte allein einsam sein, doch mittlerweile waren sie und Mårten zusammen einsam. Unwillig schlug sie die Augen auf.
Erica saß am Wohnzimmertisch. Um sie herum schien eine Spielzeugbombe explodiert zu sein. Autos, Puppen, Kuscheltiere und Zeug zum Verkleiden in bunter Mischung. Mit drei Kindern im Haus, die noch keine vier Jahre alt waren, sah es meistens so aus. Wie üblich hatte sie sich lieber dem Schreiben gewidmet, anstatt in einem der kostbaren kinderfreien Momente aufzuräumen.
Als sie hörte, dass die Haustür geöffnet wurde, wandte sie sich vom Computer ab. Es war ihr Mann.
»Was machst du denn hier? Wolltest du nicht zu Kristina?«
»Mama war nicht zu Hause. Typisch, ich hätte vorher anrufen sollen.« Patrik kickte seine Gummipantoffeln in die Ecke.
»Musst du die immer anziehen? Und auch noch Auto damit fahren?« Sie zeigte angewidert auf sein Schuhwerk, das zu allem Überfluss neongrün war. Ihre Schwester Anna hatte Patrik die Dinger aus Spaß geschenkt, aber nun wollte er keine anderen Schuhe mehr tragen.
Patrik kam zu ihr und gab ihr einen Kuss. »Die sind doch so bequem.« Er ging in die Küche. »Hat der Verlag dich erreicht? Es muss ja ziemlich dringend gewesen sein, wenn sie sogar bei mir anrufen.«
»Sie wollten wissen, ob ich dieses Jahr wie versprochen zur Buchmesse komme, aber ich weiß es noch nicht genau.«
»Natürlich fährst du hin. Ich habe bereits dafür gesorgt, dass ich an dem Wochenende nicht arbeiten muss, und kümmere mich um die Kinder.«
»Danke.« Insgeheim jedoch ärgerte sich Erica, dass sie ihrem Mann dankbar war. Was übernahm sie nicht alles, wenn sein Job ihn aus heiterem Himmel forderte oder wenn Wochenenden, Feiertage und freie Abende auf der Strecke blieben, weil die Polizeiarbeit nicht warten konnte? Sie liebte Patrik über alles, aber manchmal hatte sie das Gefühl, dass er gar nicht darüber nachdachte, wie viel Verantwortung für Haus und Kinder auf ihr allein lastete. Sie hatte schließlich auch einen Beruf und war außerdem recht erfolgreich.
Oft musste sie sich anhören, wie großartig es sein müsse, wenn man vom Schreiben leben konnte. Sich die Zeit frei einteilen durfte und sein eigener Chef war. Erica ärgerte sich immer wieder darüber, denn obwohl sie ihre Arbeit unheimlich mochte und wusste, wie gut sie es getroffen hatte, sah die Wirklichkeit anders aus. Freiheit verband sie mit dem Schriftstellerdasein jedenfalls nicht, im Gegenteil. Ein Buchprojekt konnte einen sieben Tage in der Woche rund um die Uhr in Atem halten. Manchmal beneidete sie diejenigen, die einfach zur Arbeit gingen und nach acht Stunden Feierabend hatten. Sie dagegen konnte nie abschalten, und der Erfolg hatte Verpflichtungen und Erwartungen mit sich gebracht, die sich mit dem Leben einer Mutter von kleinen Kindern nur schwer in Einklang bringen ließen.
Zudem war es schwierig zu behaupten, ihre Arbeit sei wichtiger als die von Patrik. Er beschützte Menschen, klärte
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