Die englische Freundin
schaute Mrs Reed an, die zurückblickte, dann nickten die beiden Frauen sich zu. Honor nutzte die Gelegenheit, um sich die Augen zu trocknen und zitternd durchzuatmen.
»Schön, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen, Belle«, sagte Mrs Reed.
»Ja, ich freue mich auch, Elsie.«
»Ihr habt euch noch nie gesehen?«, fragte Honor verblüfft.
»Das vermeidet man besser, es erregt nur Aufmerksamkeit«, erklärte Belle. »Aber wir wissen voneinander.« Sie wandte sich wieder an Mrs Reed. »Hat dich jemand reinkommen sehen?«
»Mir ist nichts aufgefallen. DrauÃen im Wald steht ein Mann mit einem Pferd und wartet auf mich. Er hat mich bis dorthin gebracht, aber den Rest bin ich gelaufen. Eigentlich hätte ich nicht herkommen dürfen, in letzter Zeit ist es auch für mich nicht mehr sicher. Seit sie das neue Gesetz erlassen haben, gehe ich nicht mehr gern weit von zu Hause weg. Aber diesmal habe ich eine Ausnahme gemacht.« Mrs Reed nickte in Honors Richtung. »Allerdings frag ich mich mittlerweile, warum.«
Belle schmunzelte. »Ja, stimmt, man will ihr immer helfen. Ich weià auch nicht, warum.«
Honor schaute mit staunend geweiteten Augen von einer Frau zur anderen.
»Ich glaub, ich muss einfach jedem Flüchtling helfen, der mir über den Weg läuft, egal welche Hautfarbe er hat. Das liegt mir einfach im Wesen.« Mrs Reed blickte jetzt wieder Honor an. »Also, hören Sie, Honor: Ich will nicht, dass Sie die Flüchtlinge als Vorwand benutzen, um selbst flüchten zu können. Wenn Sie Probleme mit der Familie Ihres Mannes haben, dann sollten Sie dort bleiben und sie klären. Oder haben Sie Probleme mit ihm?«
Honor dachte über die Frage nach.
»Kümmert er sich um dich?«, fiel Belle jetzt mit ein. »Schlägt er dich? Ist er sanft im Bett?«
Honor nickte oder schüttelte den Kopf, obwohl die Frauen die Antworten längst kannten.
»Er ist ein Quäker, deshalb wird er weder rauchen, trinken noch spucken«, fuhr Belle fort. »Das ist doch schon mal was. Was, in drei Teufels Namen, ist dann das Problem mit ihm? Mal abgesehen von seiner Mutter?« Belle und Mrs Reed blickten Honor an und warteten auf eine Antwort.
Wenn doch nur Comfort aufwachen würde, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken!, dachte Honor, doch sie musste antworten. »Eigentlich ist Jack schon in Ordnung. Das Problem liegt bei mir. Ich gehöre nicht in dieses Land.«
Als sie das müde Lächeln von Belle und Mrs Reed sah, wusste Honor, wie albern das für die beiden Frauen klingen musste: Die eine blickte dem Tod entgegen, die andere musste um ihre Freiheit fürchten. »Natürlich bin ich den Haymakers dankbar dafür, dass sie mich aufgenommen haben«, fuhr sie fort, »aber ich ⦠aber ich komme dort einfach nicht zur Ruhe. Es ist, als würde ich immer knapp über dem Boden schweben, meine FüÃe finden keinen festen Halt. Damals in England wusste ich, wo ich hingehöre. In meinem Heimatort habe ich mich fest verwurzelt gefühlt.«
Beide Frauen nickten, was Honor überraschte, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass man sie verstehen würde. »So kann es einem in Ohio gehen«, sagte Mrs Reed. »Viele Leute sagen das.«
»In Ohio sind alle nur auf der Durchreise«, fügte Belle hinzu. »Die entflohenen Sklaven wollen in den Norden und die Siedler in den Westen. Morgen, nächsten Monat oder nächstes Jahr sind deine Nachbarn vielleicht schon nicht mehr da. Elsie und ich hier sind Veteraninnen. Wie lange bist du schon in Oberlin?«, fragte sie Mrs Reed.
»Zwölf Jahre.«
»Und ich bin seit fünfzehn Jahren in Wellington. Für die hiesigen Verhältnisse ist das eine Ewigkeit. Wellington wurde erst 1818 gegründet, es hat noch nicht einmal eine amtliche Eintragung, und Oberlin ist noch jünger.«
»Die Stadt, aus der ich komme, ist tausend Jahre alt«, sagte Honor.
Mrs Reed und Belle schmunzelten. »Na, dann stecken wir für dich ja noch in den Kinderschuhen, Schätzchen«, sagte Belle.
»Ist es das, was Sie wollen, Honor Bright?«, fragte Mrs Reed. »Eine Stadt mit tausendjähriger Geschichte und Menschen, die ihr Leben lang dort wohnen bleiben? Dann sind Sie im falschen Bundesstaat gelandet.«
»Wenn du dieses Gefühl von Verwurzeltsein suchst, gehst du besser nach Boston oder Philadelphia«, fügte Belle
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