Die englische Freundin
Seite nicht mehr zu sehen war. Man erkannte sie nur, wenn man ihr von vorne direkt ins Gesicht blickte.
»Jetzt musst du los«, sagte Belle. »Die ganze Stadt ist auf den Beinen, um den Zug einfahren zu sehen. Geh raus und rufe âºWartet auf mich, meine Damenâ¹, und dann lauf ihnen hinterher. Tu so, als wolltest du auch zum Zug. Donovan steht auf der anderen StraÃenseite und beobachtet den Laden, du musst also eiskalt und verwegen sein.«
Virginie drückte Belles Arm. »Danke.«
Belle lachte. »Keine Ursache, Schätzchen. Jetzt raus mit dir. Wenn alles gut geht, sehen wir uns nicht wieder!«
»Gott sei mit dir, Virginie«, fügte Honor hinzu. »Und mit deinen Mädchen.«
Virginie nickte, dann schoss sie aus der Tür und rannte hinter den anderen Frauen her.
»Komm vom Fenster weg«, befahl Belle. »Donovan darf nicht sehen, dass wir ihnen nachblicken, sonst schöpft er Verdacht.«
In dem Moment ging die Tür auf, und eine andere Frau aus Wellington trat in den Laden. »Ich bin doch noch nicht zu spät, oder? Ich brauche nur ein neues Band für meine Haube.«
»Für Sie lassen wir auch länger auf«, sagte Belle. »Honor, bitte räume die Hauben auf. Die Mädchen haben gerade wirklich ein schönes Durcheinander angerichtet.«
Mit einer Hand räumte Honor die Hauben ins Regal zurück, während sie mit der anderen Comfort wiegte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie musste sich zwingen, nicht aus dem Fenster zu schauen, um zu sehen, ob Donovan den Frauen folgte.
Zehn Minuten später begleitete Belle die Kundin zur Tür, dann sperrte sie hinter ihr zu, drehte den Schlüssel im Schloss und begann, die Fensterläden zu schlieÃen. »Er ist weg«, verkündete sie, »aber ich weià nicht, ob er den Frauen nachgegangen ist oder auf einen Abendwhiskey in die Bar. Bei Gott, ich könnte selbst einen brauchen. Warum auch nicht â¦Â« Belle ging in die Küche, wo sie sich einen Fingerbreit Whiskey einschenkte und in einem Zug hinunterkippte.
Honor beobachtete sie von der Tür aus. »Ist es immer so schwierig?«
»Nee.« Belle knallte das Glas zurück auf den Tisch. »Oft kriegt er nicht einmal mit, dass sie durch die Stadt kommen. AuÃerdem jagt er sie lieber im Freien. DrauÃen in den Wäldern, Feldern oder auf der StraÃe fühlt er sich wohler als in einem Hutladen. Aber seit du da bist, schnüffelt er öfter hier rum, auch wenn er nicht mehr wie früher vorm Laden auf und ab reitet. Deshalb ist es viel schwieriger geworden, Leute zu verstecken.«
»Durch mich ist es für die Flüchtlinge noch gefährlicher geworden?« Plötzlich fiel es Honor wie Schuppen von den Augen. Wieso hatte sie das nicht schon vor Wochen begriffen?
Belle zuckte die Schultern. »Ich habe ihnen eine Nachricht zukommen lassen, dass sie uns eine Weile keine Flüchtlinge mehr schicken, deshalb hatten wir in letzter Zeit, seit du da bist, auch keine mehr. Virginie war eine Ausnahme, weil sie schon einmal bei mir war.«
Honor erschauderte. Virginie und ihre Kinder hätten geschnappt werden können, weil sie selbst in ihrer Unentschlossenheit sich noch immer bei Belle versteckte. Möglicherweise wurden sogar andere entflohene Sklaven auf der Flucht erwischt, weil sie die vertrauten Routen ändern mussten, um Wellington zu vermeiden. Belle hatte sich niemals darüber beklagt, dass Honor so lange bei ihr blieb, doch es hatte Folgen gehabt.
Am nächsten Tag kam ein Junge vorbei und brachte die Nachricht, dass die Flüchtlinge die Stadt sicher verlassen hätten und auf dem Weg nach Oberlin seien. Belle feierte es mit einem weiteren Whiskey.
Es war der letzte Ersttag vor Ablauf des Ultimatums, das die Haymakers Honor gesetzt hatten. Entweder sie ging zu ihrem Mann und seiner Familie zurück, oder sie würde aus der Gemeinschaft der Freunde in Faithwell ausgestoÃen. Der Laden war geschlossen, und Belle, die die halbe Nacht mit einer Whiskeyflasche durchwacht hatte, schlief noch. Was das Trinken anging, war sie ihrem Bruder ähnlich. Wie schon bei Honors letztem Aufenthalt besuchte sie sonntags nicht den Gottesdienst. »Wenn ich meinem Schöpfer dereinst gegenübertrete, werden wir uns ausführlich unterhalten«, sagte sie. »Dann haben wir Zeit, alles zu klären.« Es klang so, als rechne sie damit, dass diese Begegnung in nicht allzu ferner
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