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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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Engländerinnen würden niemals so viel Stoff um den Hals flattern haben wollen –, doch hier in Amerika brannte die Sonne stärker, vielleicht war der Schutz nötig. Auf jeden Fall war die Haube leicht zusammenzunähen.
    Honor nahm eine Garnrolle und ihren Nadeleinfädler und fädelte geschickt sechs Nadeln ein, die sie einsatzbereit ins Kissen steckte. Auch wenn sie unter Belles kritischem Blick noch ein wenig befangen war, fühlte sie sich beim Nähen in ihrem Element. Sie befestigte den Haubenkopf mit Rückstichen an der Krempe, wobei sie den Stoff am Übergang zwischen Krempe und Kopf fältelte. Honor war eine flinke, akkurate Näherin, aber bei dieser Haube arbeitete sie bewusst langsamer, um sicherzugehen, dass sie alles genau so machte, wie Belle es wollte.
    Belle saß im Schaukelstuhl neben ihr auf der Veranda und nähte cremefarbene Seide auf die ovale Krempe einer Strohhaube. In regelmäßigen Abständen warf sie einen prüfenden Blick auf Honors Arbeit. »Ich sehe schon, ich muss Ihnen nichts mehr erklären«, sagte sie, als Honor mit der Sonnenhaube fertig war. »Jetzt schauen Sie mir zu, wie ich den Stoff fältele, damit er ganz glatt auf der Strohkrempe liegt. Sehen Sie, so macht man es. Meinen Sie, Sie können das auch? Versuchen Sie’s mal. Und nehmen Sie diese Nadel, es ist eine Putzmachernadel, für Stroh ist die besser.«
    Als Belle sich hinreichend von Honors Nähkünsten überzeugt hatte, stand sie auf und streckte sich. »Ich glaube, Sie sind ein echter Glücksfall für mich, Honor. Wenn Sie mit der Haube fertig sind, können Sie hiermit weitermachen.« Sie klopfte auf einen Stapel Hauben in verschiedenen Herstellungsstadien, die sie zwischen sich und Honor auf den Tisch gelegt hatte. »Ich nähe später noch den Besatz drauf. Wenn Sie Fragen haben, finden Sie mich im Laden. Ich muss heute Nachmittag noch einmal aufmachen.«
    Es war warm geworden. Die Sonne stand hoch am Himmel, und auf der Veranda gab es fast keinen Schatten mehr. Honor war seit ihrer Ankunft in Amerika selten einmal allein gewesen, deshalb genoss sie es, sich an diesem strahlend hellen Frühlingsnachmittag unbehelligt von den Fragen und Wünschen fremder Menschen einer vertrauten Tätigkeit widmen zu können. Allerdings hätte sie lieber in einen Bauerngarten mit schönen Staudenbeeten geblickt, auf Blumen, wie sie daheim im Garten ihrer Mutter wuchsen: Lupinen, Rittersporn, Akelei, Jungfer im Grünen und Vergissmeinnicht. Sie fragte sich, ob diese Blumen auch in Amerika gedeihen würden und ob die Amerikaner überhaupt Staudenbeete anlegten. Vermutlich nicht, denn Blumen hatten ja keinen praktischen Nutzen. Vor allem in dieser Gegend, wo man der Wildnis mühsam jeden Quadratmeter kultivierbaren Landes abringen musste und der Kampf ums Überleben alle Kräfte aufzehrte, stand wohl niemandem der Sinn nach schmückendem Beiwerk. Andererseits zeigte ein Blick auf den Haubenstapel, den Belle ihr hingelegt hatte, dass sich die Frauen Ohios bei den Kopfbedeckungen durchaus etwas Schmuck gönnten, denn die Hauben waren ausnahmslos aus farbenprächtigen Chintz- und Baumwollstoffen.
    Als Honor mit der cremefarbenen Haube fertig war, nahm sie sich die nächste vor. Sie war aus einem zartgrünen, mit winzigen Gänseblümchen bedruckten Stoff. Schlug man die Krempe der Haube zurück, wurde darunter noch ein anderer, hellbrauner Stoff sichtbar. Honor hätte als Farbe eher rosa erwartet, nahm sich aber vor, nichts zu sagen. Während sie Stich für Stich an der zweiten Haube arbeitete, gab sie sich ganz dem vertrauten, von ständigen Wiederholungen geprägten Rhythmus des Nähens hin, der fast schon etwas Meditatives hatte. Es war so ähnlich wie in der Stillen Andacht: Die Gedanken wurden ruhiger. Honors Schultern sanken locker herab. Seit ihrer Abreise aus England hatte sie sich ständig angespannt gefühlt, jetzt nahm dieses Gefühl ein wenig ab. Als der Faden zu Ende war, ließ sie die Hände in den Schoß sinken und schloss die Augen. In der Ruhe und Einsamkeit fand sie endlich Muße zum Nachdenken. Sie dachte an Samuel, der ihr gesagt hatte, dass er eine andere liebe; an die Entscheidung, ihr geliebtes Dorset zu verlassen; an den Tod der Schwester, der sie ganz allein in der Fremde zurückgelassen hatte. Und plötzlich musste sie weinen. Ihr Schluchzen kam so heftig und

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