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Die englische Freundin

Die englische Freundin

Titel: Die englische Freundin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Chevalier
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schmerzhaft, dass es sie an das ständige Würgen an Bord der Adventurer erinnerte.
    Zwischen den unterdrückten Schluchzern überkam Honor plötzlich ein seltsames Gefühl, ähnlich wie am Vortag auf der Straße zwischen Hudson und Wellington: Sie war nicht allein. Sie schaute hinter sich, aber Belle stand weder in der Tür noch hinterm Küchenfenster. Ihre Stimme hallte aus dem Laden herüber. Auch in den Nachbargärten war niemand zu sehen. Im nächsten Moment hörte Honor ein dumpfes Geräusch. Es schien aus dem Schuppen an der Hausseite zu kommen.
    Vielleicht ein Hund, dachte sie und wischte sich die Augen mit dem Ärmel trocken. Oder eins von diesen Tieren, die es in England nicht gab, ein Opossum, ein Stachelschwein oder ein Waschbär. Aber stöberten solche Tiere in Holzstapeln herum? Außerdem hatte sie, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, warum, das sichere Gefühl, dass es sich um eine menschliche Präsenz handelte.
    Honor hielt sich nicht für besonders mutig. Bevor sie nach Amerika gekommen war, war sie auch kaum jemals in Situationen geraten, die beherztes Handeln erfordert hätten. Jetzt aber musste sie sich zusammenreißen, um nicht ins Haus zu laufen und Belle zu holen. Sie legte die Haube beiseite, stand auf und schlich die Verandatreppe hinab. Unentschlossenheit würde ihr in dieser Situation nicht weiterhelfen, dachte Honor und atmete tief durch. Dann hielt sie die Luft an und warf einen Blick in den Schuppen.
    Das Licht fiel nur etwa einen halben Meter weit ins Innere, dahinter schlug das Halbdunkel in totale Dunkelheit um. Einen Moment lang sah Honor gar nichts, dann gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und sie machte an der rechten Wand einen ordentlich geschichteten hohen Holzstapel aus. Zwischen Holz und Wand war eine schmale Lücke, damit man besser an den Stapel herankam. In dieser Lücke stand ein Schwarzer. Honor, die noch immer die Luft anhielt, keuchte erschrocken auf und atmete dann jäh aus. Sie starrte den Mann an. Er war von mittlerer Größe und Statur, hatte gekräuseltes Haar und dicke, runde Backen. Seine Kleider sahen abgetragen und schmutzig aus, und er war barfuß. Mehr hätte Honor über ihn nicht sagen können, denn sie war in ihrem Leben zu wenigen Schwarzen begegnet, um das Aussehen des Mannes bewerten und einordnen zu können. Sie wusste auch nicht, ob er ängstlich, wütend oder resigniert schaute. In Honors Augen war er einfach nur schwarz.
    Was sollte sie sagen? Sollte sie überhaupt etwas sagen? Honor wusste es nicht. Sie trat zurück und lief schnell zur Veranda. Dort warf sie ihre Nähutensilien zurück ins Kästchen, legte die Hauben darauf und nahm alles mit ins Haus.
    Belle schien sich über ihren Anblick nicht weiter zu wundern. »Zu viel Sonne?«, fragte sie, während sie den Hut auf dem Kopf einer Kundin zurechtrückte. Sie schärfte noch einmal einen Kniff und steckte dann eine Hutnadel hindurch. Beide Frauen überprüften die Wirkung im Spiegel. »So ist es besser, meinen Sie nicht auch? Steht Ihnen.«
    Â»Ich weiß nicht«, erwiderte die Frau. »Außerdem haben Sie die Veilchen zusammengedrückt.«
    Â»Ach, tatsächlich? Ich mach Ihnen ein paar neue, jetzt wo ich eine Assistentin habe. Sind Sie mit einem Penny das Veilchen einverstanden?« Belle zwinkerte Honor zu. »Ist die Haube von Miss Adams fertig? Die grüne. Ja? Gut. Sie können dort in der Ecke am Fenster weiterarbeiten, da haben Sie das beste Licht.« Noch bevor Honor etwas erwidern konnte, hatte Belle sich wieder ihrer Kundin zugewandt.
    Honor arbeitete den ganzen Nachmittag an den Hauben, und allmählich hörten ihre Hände auf zu zittern. Schließlich überlegte sie sogar, ob sie sich den Mann nur eingebildet hatte. Vielleicht hatten die Hitze, das ungewohnt grelle Licht und die Aufregung der letzten Tage sie so weit gebracht, dass sie einen Hund oder Waschbären mit einem Menschen verwechselte. Honor beschloss, Belle gegenüber nichts zu erwähnen.
    Im Laden herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Die Kundinnen beäugten Honor neugierig: Sie war etwas Besonderes und gab neuen Gesprächsstoff her, nur Honor direkt anzusprechen traute sich niemand. Stattdessen wurde Belle mit Fragen gelöchert. »Wozu hast du dir eine Quäkerin ins Fenster gesetzt, Belle?«, hieß es. »Wo kommt sie her? Wo will sie hin? Warum ist

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