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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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warf ihn ihr zu, aber so heftig, daß sie ihn nicht auffangen
konnte. Die Jungen waren groß geworden, sie gehorchten einer Erwachsenen nicht,
wenn sie langsam war. Jetzt kam Vater Franklin. Wen beschimpfte er? Mutter. Wen
prügelte er? John. Dem verdutzten Sherard verbot er, sich hier noch einmal
sehen zu lassen. So war das abgelaufen.
    Der starre Blick eignete sich auch zum Nachdenken. Erst sah John nur
das Marktkreuz, dann kam um diese Mitte herum immer mehr hinzu, Stufen, Häuser
und Kutschen, er überblickte alles, ohne daß sein Auge hüpfte oder hetzte.
Zugleich fügte sich in seinem Kopf eine große Erklärung allen Übels zusammen
wie ein gemaltes Bild, mit Stufen und Häusern und dem Horizont dahinter.
    Hier kannten sie ihn und wußten, wie sehr er sich anstrengen mußte.
Er wollte lieber unter fremde Leute, die womöglich eher so waren wie er selbst.
Es mußte sie geben, vielleicht sehr weit weg. Und dort würde er Schnelligkeit
besser lernen können. Außerdem wollte er gern das Meer sehen. Hier konnte er
nichts werden. John war entschlossen: heute nacht noch! Die Mutter konnte ihn
nicht schützen und er sie auch nicht, er machte ihr eher noch Kummer. »Es ist
nicht einfach mit mir«, flüsterte John, »ich werde mich ändern, und dann wird
alles anders sein!« Er mußte weg, nach Osten zur Küste, wo der Wind herkam. Er
fing schon an, sich zu freuen.
    Irgendwann würde er zurückkommen wie Tommy im Buch, flink und
beweglich und in reiche Kleider gehüllt. Er würde in die Kirche gehen und
mitten im Gottesdienst laut »Stop« rufen. Alle, die ihn oder die Mutter
gekränkt hatten, würden von selbst das Dorf verlassen, und Vater würde stürzen
und den Kopf verlieren.
    Gegen Morgen schlich er aus dem Haus. Er ging nicht über den Platz
am Marktkreuz vorbei, sondern zwischen den Ställen durch direkt auf die Weiden.
Sie würden ihn suchen, also mußte er an die Spuren denken. Er passierte Ing
Ming. Sherard wollte er nicht wecken, der war arm und würde mitgehen wollen,
und er war doch zu klein, um auf einem Schiff genommen zu werden. John
erreichte die Ställe von Hundleby. Feuchtkühl war es noch und das Licht
schwach. Er war gespannt auf die Fremde, und seine Pläne waren gut ausgedacht.
    In einem dünnen Wassergraben watete er bis zum Bache Lymn. Sie
würden denken, er sei in Richtung Horncastle gegangen und nicht zum Meer. In
weitem Bogen wanderte er dann nördlich an Spilsby vorbei. Als die Sonne
aufging, tappte er durch eine Furt des Steeping River, die Schuhe in der Hand.
Jetzt war er schon weit östlich des Dorfs. Allenfalls den Schäfer konnte er
noch treffen im Hügelland, aber der schlief bis in den Vormittag, getreu seiner
Meinung, die Morgendämmerung müsse den Tieren des Waldes gehören. Der Schäfer
hatte Zeit und dachte viel nach, meist mit geballten Fäusten. John mochte ihn,
aber heute war es besser, ihm nicht zu begegnen. Vielleicht würde er sich
einmischen. Ein Erwachsener hatte über das Weglaufen immer eine andere Meinung
als ein Kind, auch wenn er nur ein Schäfer war, ein Langschläfer und Rebell.
    Mühsam ging John durch Wälder und Wiesen, vermied jeden Weg, kroch
durch Zäune und Hecken. Wenn er im dunklen Gehölz gegangen war und durchs
Gebüsch aus dem Wald wieder ausstieg, griff die Sonne nach ihm, erst mit dem
Licht und dann mit der Wärme, immer kräftiger. Dornen zerkratzten seine Beine.
Er war froh wie noch nie, denn er war nun ganz auf sich selbst gestellt. Von
fern hallten die Schüsse einer Jagdgesellschaft durch die Stämme. Er machte
einen Bogen nach Norden durchs Weidegebiet, denn er wollte kein Wild sein.
    John suchte einen Ort, an dem niemand ihn zu langsam fand. Der
konnte aber noch weit sein.
    Einen einzigen Schilling besaß er, ein Geschenk von Matthew, dem
Seemann. Dafür bekam er im Notfall einen Braten mit Salat. Für einen Schilling
konnte man auch einige Meilen mit der Postkutsche fahren, wenn man außen
mitfuhr, also sich aufs Dach setzte. Aber da würde er sich nicht richtig
festhalten können oder den Kopf nicht einziehen, wenn niedrige Torwege kamen.
Am besten waren allemal das Meer und ein Schiff.
    Als Steuermann war er vielleicht brauchbar, aber die anderen mußten
ihm auch vertrauen. Vor Monaten hatten sie sich verirrt auf der Waldwanderung.
Allein er, John, hatte die allmählichen

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