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Die Entdeckung der Langsamkeit

Die Entdeckung der Langsamkeit

Titel: Die Entdeckung der Langsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sten Nadolny
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ein Huhn?
Wenn es mit dem einen Auge auf John sah, was nahm das andere wahr? Damit fing
es doch schon an! Hühnern fehlte der gesammelte Blick und die zügige,
angemessene Bewegung. Schritt man auf sie zu, um sie bei ungetarnten
Veränderungen zu ertappen, dann fiel die Maske, es gab Geflatter und Geschrei.
Hühner kamen überall vor, wo Häuser standen, es war eine Last.
    Eben hatte Sherard ihn angelacht, aber nur kurz. Er mußte sich Mühe
geben und ein tüchtiger Fänger sein, er stammte aus Ing Ming und war mit fünf
Jahren der Jüngste. »Ich muß aufpassen wie Adler«, pflegte Sherard zu sagen,
nicht »wie ein Adler«, sondern »wie Adler« ohne »ein«, und dabei guckte er ganz
ernst und starr wie ein spähendes Tier, um zu zeigen, was er meinte. Sherard
Philip Lound war klein, aber John Franklins Freund.
    Jetzt nahm sich John die Uhr von St. James vor. Das Zifferblatt war
an der Seitenkante des dicken Turms auf den Stein gemalt. Nur einen Zeiger gab
es, und der mußte dreimal am Tag vorgerückt werden. John hatte eine Bemerkung
gehört, die ihn mit dem eigensinnigen Uhrwerk in Verbindung brachte. Verstanden
hatte er sie nicht, aber er fand seitdem, die Uhr habe mit ihm zu tun.
    Im Inneren der Kirche stand Peregrin Bertie, der steinerne Ritter,
und überschaute die Gemeinde, den Schwertgriff in der Hand seit vielen hundert
Jahren. Einer seiner Onkel war Seefahrer gewesen und hatte den nördlichsten
Teil der Erde gefunden, so weit weg, daß die Sonne nicht unterging und die Zeit
nicht ablief.
    Auf den Turm ließen sie John nicht hinauf. Dabei konnte man sich
bestimmt an den vier Spitzen und ihren vielen Zacken gut festhalten, während
man übers Land sah. Auf dem Friedhof kannte John sich aus. Die erste Zeile auf
allen Grabsteinen hieß: »To the memory of«. Er konnte lesen, aber er vertiefte
sich lieber in den Geist der einzelnen Buchstaben. Sie waren im Geschriebenen
das Dauerhafte, das immer Wiederkehrende, er liebte sie. Die Grabsteine
stellten sich tagsüber auf, der eine steiler, der andere schräger, um für ihre
Toten etwas Sonne aufzufangen. Nachts legten sie sich flach und sammelten in
den Vertiefungen ihrer Inschriften mit großer Geduld den Tau. Grabsteine konnten
auch sehen. Sie nahmen Bewegungen wahr, die für menschliche Augen zu allmählich
waren: den Tanz der Wolken bei Windstille, das Herumschwenken des Turmschattens
von West nach Ost, die Kopfbewegungen der Blumen nach der Sonne hin, sogar den
Graswuchs. Im ganzen war die Kirche John Franklins Ort, nur gab es dort außer
dem Beten und Singen nicht viel zu tun, und gerade das Singen liebte er nicht.
    Johns Arm hielt die Schnur. Die Herde hinter dem Hotel graste im
Verlauf einer Viertelstunde um eine Ochsenlänge weiter. Das kleine Weiße war
die Ziege, sie graste stets mit, denn das verhinderte, so hieß es, Angst und
Unruhe in der Herde. Von Osten schwebte eine Möwe ein und setzte sich auf eine
der roten Tonröhren des Hotelkamins. Auf der anderen Seite bewegte sich etwas,
drüben vor dem Gasthaus Zum weißen Hirsch. John wandte den Kopf. Da ging seine
Tante Ann Chapell, begleitet von Matthew, dem Seemann, und der hielt ihre Hand.
Wahrscheinlich heirateten sie bald. Er trug eine Kokarde am Hut wie alle Seeoffiziere,
wenn sie an Land waren. Die beiden nickten herüber, sagten etwas zueinander und
blieben stehen. Um sie nicht anzustarren, studierte John den weißen Hirsch, wie
er da auf dem Erkerdach lag, die goldene Krone um den Hals. Wie hatte man die
übers Geweih gekriegt? Das wollte sicher wieder niemand beantworten. Links
neben dem Hirsch stand zu lesen: »Dinners and Teas« und rechts »Ales, Wines,
Spirits«. Konnte es sein, daß Ann und Matthew über ihn, John Franklin,
sprachen? Sie machten jedenfalls besorgte Gesichter. Äußerlich war er doch in
Ordnung? Vielleicht sagten sie: »Er kommt nach der Mutter.« Hannah Franklin war
die langsamste Mutter weit und breit.
    Er sah wieder nach der Möwe. Jenseits des Marschlandes lagen die
Sandküste und das Meer. Seine Brüder hatten es schon gesehen. Es gab dort eine
Bucht, genannt The Wash. In ihrer Mitte hatte King John seine Kronjuwelen
verloren. Womöglich wurde man König, wenn man sie wiederfand. Er konnte beim
Tauchen lang die Luft anhalten. Wenn einer viel besaß, waren die anderen sofort
respektvoll und geduldig.
    Der Waisenjunge Tommy im

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