Die Entdeckung der Virtualität.
Silberschüssel, worin auf knusprigem Brot das Rebhuhn geduftet hatte, stand vor mir ein Teller aus Steingut; darauf lag ein unappetitlicher graubrauner Breiklumpen; er blieb an der Zinngabel kleben, deren edler Silberglanz gleichfalls erloschen war. Zu Eis erstarrt, blickte ich auf die Scheußlichkeit, die ich mir eben noch hatte schmecken lassen, entzückt von dem Knistern der gebräunten Geflügelhaut und von den kontrapunktisch dazwischenklingenden derberen Knirschtönen der Brotscheibe, die an der Oberseite feinst getrocknet und unten von der Sauce durchtränkt war. Was ich für die Wedel der Palme in einem nahen Kübel gehalten hatte, das waren in Wirklichkeit die Bänder der Unterhose eines Individuums, das zusammen mit drei anderen dicht über uns hockte, nicht auf einem Treppenabsatz, eher auf einem Wandbrett — so schmal und eng war das Gestell. Überall herrschte nämlich unerhörtes Gedränge. Die Augen wollten mir schier aus den Höhlen treten, als das entsetzliche Bild erzitterte und sich wieder zu verwischen begann, wie vom Zauberstab berührt. Die Hosenbändchen neben meinem Gesicht ergrünten und wurden wieder zu blättrigen Palmzweigen; der Spülichteimer, der kaum drei Schritte entfernt zum Himmel stank, erglänzte dunkel und wurde zum reliefgeschmückten Palmentopf, die schmutzige Tischplatte wurde weiß wie von erstem Schnee. Kristallene Gläschen blinkten auf, der pappige Brei nahm edle Bratenfarbe an; ihm wuchsen Flügelchen und Keulen, wo sie hingehörten; das Zinnbesteck erstrahlte in echtem Silber; und ringsum schwirrten Kellnerfräcke. Ich blickte auf meine Füße; das Stroh verwandelte sich in Perser. Die Welt des Luxus hatte mich wieder; schwer keuchend starrte ich auf die üppige Rebhuhnbrust, unfähig zu vergessen, was sich darunter tarnte.
»Nun erst beginnen Sie die Wirklichkeit zu erfassen« — flüsterte Trottelreiner vertraulich. Er sah mir ins Gesicht, als befürchtete er eine allzu heftige Reaktion meinerseits. »Und bedenken Sie, daß wir in einem Lokal der Extraklasse weilen! Wenn ich nicht im voraus Ihre etwaige Einweihung in Betracht gezogen hätte, dann wären wir in ein Restaurant gegangen, dessen Anblick Ihnen vielleicht den Verstand verwirren könnte.«
»Wie? Also... Es gibt noch ärgere?«
»Ja.«
»Unmöglich.«
»Seien Sie versichert. Hier haben wir wenigstens echte Tische, Stühle, Teller und Bestecke. Anderswo liegt man auf vielstöckigen Pritschen und frißt mit den Fingern - aus Eimern, die ein Förderband vorüberschiebt. Auch das Futter unter der Rebhuhnmaske ist dort lang nicht so nahrhaft.«
»Was ist das?«
»Nichts Giftiges, Tichy. Bloß ein Extrakt aus Gras und Futterrüben, in gechlortem Wasser aufgeweicht und zusammen mit Fischmehl vermahlen. Meist fügt man Knochenleim und Vitamine hinzu und befettet den Teig mit synthetischem Schmieröl, damit er im Schlund nicht steckenbleibt. Sie haben doch wohl den Geruch bemerkt?«
»Hab ich. Und ob!!!«
»Na eben.«
»Professor, bei Gottes Barmherzigkeit — was ist das? Sagen Sie es mir! Ich beschwöre Sie. Absprache? Verrat? Ein Plan, um die ganze Menschheit auszurotten? Eine teuflische Verschwörung?«
»Warum nicht gar, Tichy. Werden Sie nicht dämonisch.
Das ist einfach eine Welt, worin weit über zwanzig Milliarden Menschen leben. Mein Lieber, haben Sie den heutigen ›Herald‹ gelesen? Die pakistanische Regierung behauptet, in der diesjährigen Hungerkatastrophe seien nur 970000 Menschen umgekommen; die Opposition spricht von sechs Millionen. Wo fänden sich in einer solchen Welt Chablis, Rebhühner, Frikassee in Béarnaisesauce? Die letzten Rebhühner sind vor einem Vierteljahrhundert ausgestorben. Diese Welt ist ein Leichnam, freilich in bestem Zustand, denn sie wird ja fortwährend mit Geschick mumifiziert. Anders gesagt — wir haben diesen Todesfall maskieren gelernt.«
»Warten Sie! Ich kann die Gedanken nicht zusammen
halten... Das heißt also, daß...«
»Daß Ihnen niemand übelwill. Ganz im Gegenteil. Aus Mitleid, aus Gründen höherer Menschenliebe wird der chemische Humbug angewandt, wird die Wirklichkeit getarnt und mit fremden Federn und Farben aufgeputzt...«
»Und dieser Betrug ist überall, Herr Professor?«
»Ja.«
»Aber ich esse nicht außer Haus. Ich koche mir selbst. Wie also? Auf welchem Wege...?«
»Wie Sie die Maskone aufnehmen? Das fragen Sie noch? Sie? Die werden ständig
Weitere Kostenlose Bücher