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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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seine wahre Natur offenbart: jeder kann den Nobelpreis haben und sich die wertvollsten Kunstwerke daheim an die Wand hängen, wenn eins wie das andere lediglich in einer Prise eines hirnkitzelnden Pülverchens besteht. Die größte Tücke ist die, daß ein Teil des gemeinschaftlichen Blendwerks offen zutage liegt; somit läßt sich naiv eine Trennlinie zwischen Gaukelei und Wirklichkeit ziehen, und da ja auf nichts mehr spontan reagiert wird, weil alle chemisch lernen, lieben, meutern und vergessen, hat der Unterschied zwischen manipulierten und ursprünglichen Gefühlen zu bestehen aufgehört. Die Fäuste in den Taschen geballt, ging ich durch die Straßen. Oh, um Wut zu verspüren, brauchte ich weder Furiasol noch Amokgeist! Mein beflügelter Spürsinn stieß auf alle hohl klingenden Stellen dieses ungeheuren Lügengebäudes, dieser Kulisse, die über die Horizonte hinauswuchert. Den Kindern verabreicht man väterschlägigen Sirup und später zwecks Persönlichkeitsentwicklung Revoltal und Protestolid — und dann, um den entfachten Feuergeist zu bezähmen, Sordin und Integrin. Polizei ist nicht vorhanden, wozu auch? Es gibt ja Knaster. Verbrecherische Gelüste stillt »Procrustics Inc.«; nur gut, daß ich die Theobauchläden bis jetzt gemieden habe, denn auch die führen nichts als ein Sortiment glaubentreibender und gnadenspendender Präparate: Bußpillen, Peccatol, Absolvian... Sogar heilig kannst du dort werden: mittels Sanktokanonisol. Warum auch nicht Allahmuslimin, Doppelbuddhazen, Kosmasyl mit Nirwan, Theokontaktol? Endzeit-Zäpfchen und Nekrinsalbe stellen dich in die vorderste Reihe im Tal Josaphat; den Rest besorgt mit Zucker verschlucktes Resurrectol. Himmelherrgottnochmal! Paradisiaca für Frömmler, Belzeban und Hellur für Masochisten... Mit Mühe verkniff ich mir den Sturm auf ein am Wege liegendes Heiliges Offizinium, wo das Volk andächtig niederkniete und Unmengen von Genuflektol in sich hineinschnupfte. Ich mußte mich zurückhalten, um nicht mit Amnestan behandelt zu werden. Alles, nur nicht das! Ich fuhr zum Rummelplatz; in der Tasche drehten die verschwitzten Finger das Klappmesser. Das Experiment mißlang, da sich die Hülle der Kabine als äußerst fest erwies. Offenbar aus Hartstahl.
    Die Mietzimmer, die Trottelreiner bewohnte, lagen an
    der Fünften Straße. Er war nicht daheim, als ich pünktlich dort ankam. Doch er hatte sich für seine etwaige Verspätung im voraus entschuldigt und mir den Funkschluß zum Funktor gegeben. Ich trat also ein und setzte mich an den Schreibtisch des Professors. Da türmten sich Fachzeitschriften und beschriebenes Papier. Aus Langeweile oder eher, um in den geistigen Eingeweiden die brennende Unruhe zu bezähmen, guckte ich in Trottelreiners Notizen. »Allmist«, »Dingwöchnerin«, »Dingselbalg«, »Andryo«. Ah, er hatte also das Sitzfleisch dazu, die Ausdrücke dieser seiner schrulligen Futurologie niederzuschreiben... »Umfruchterei«, »Eintropf«, »Austropf«. »Meistbürtig« — nun ja, vermutlich im Zuge der Bevölkerungsexplosion. Jede Sekunde kommen achtzigtausend Kinder zur Welt. Oder achthunderttausend? Auch schon egal. »Denkler«, »Denkster«, »Denksel«, »Dachtel«, »Hauptgedanke bzw. Deichseldenksel«, »gedeichselt und gedachselt«. Und damit gab er sich ab! »Professor, du hier — und dort geht die Welt zugrunde!« — wollte ich rufen. Plötzlich blinkte etwas unter den Papieren hervor. Antihall. Jenes Fläschchen. Den Bruchteil einer Sekunde lang zögerte ich; dann entschloß ich mich, beroch es vorsichtig und blickte das Zimmer an.
       Seltsam: es hatte sich kaum verändert. Die Bibliothekschränke, die Regale mit den Informationspillenordnern, alles blieb, wie es gewesen war. Nur der riesige holländische Kachelofen in der Ecke, der mit dem satten Glanz seiner Reliefkacheln das Zimmer verschönt hatte, war in ein Kanonenöfchen verwandelt, dessen durchgebrannte Blechröhre in einem Mauerloch stak. Ringsherum war der Fußboden schwarz angesengt. Hastig stellte ich die Flasche weg, wie auf frischer Tat ertappt, denn im Vorzimmer funkte es, und Trottelreiner trat ein.
       Ich erzählte ihm vom Rummelplatz. Der Professor wunderte sich, bat mich, das Taschenmesser vorzuzeigen, nickte, griff zum Fläschchen, schnupperte daran und gab es an mich weiter. Statt des Messers erblickte ich ein morsches Aststückchen. Ich schaute wieder dem Professor ins Gesicht. Irgendwie bekümmert, nicht so selbstsicher wie am Vortag, legte er

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