Die Entdeckung der Virtualität.
Paradies« vorzustellen habe, davon berichten sehr lehrreich die pornographischen Kapitel »Rohes Fleisch«; dort werden die Menschen zu Objekten reduziert, die mit Griffen und Löchern versehen sind; es gibt dort viel Stöhnen, Schnaufen, Sägen sowie völlig unentwirrbare Beschreibungen (man kann nicht mitbekommen, was wer mit wem macht, wenn bei einer »Polykopulation« sechs oder sogar zehn Personen auf einmal beteiligt sind), die mit solennen Kommentaren des Autors dicht gespickt sind, der uns davon überzeugen will, daß all das dem Helden eine einfach überwältigende Lust bereitet habe. Es fehlen auch nicht die in Millimetern (wegen der größeren Zahlen!) angegebenen Maße der Genitalien usw. Deshalb ist jenes Paradies erschreckend jämmerlich; es erinnert an ein Handbuch der Anatomie, aber auch an eine Tischlerei. Dies bewirkt eine derartig totale »Dementia« bei seinen »Kunden« — in Form der Amputation höherer Gefühle, so daß es in solchen Szenen, wenn die Helden endlich zum echten Sex bereit sind, kein Gran von Zärtlichkeit oder Liebkosung oder auch nur ein einziges Küßchen gibt: alles beginnt mit einer Debatte darüber, wer, wo und was reinstecken soll. Und dies ist nicht nur grotesk, sondern darüber hinaus auch kläglich, weil es wahrscheinlich ist: das Trainieren extremer Zügellosigkeit vernichtet die mögliche Entfaltung höherer Gefühle und verwandelt den Sex in eine Serie bedingter Kettenreflexe.
Der Roman, den Geis nicht geschrieben hat, der aber in »Raw Meat« wie eine nicht entwickelte Larve enthalten ist, weist dann auf zwei Ordnungen von Phänomenen zugleich: auf die Pornographie selbst (»das sexuelle Paradies«, in einer für die »permissive society« typischen Version) sowie auf deren gesellschaftliche Folgen in extremer Vergrößerung. Die Phantomatik wird zu einer Technik der sozialen Versklavung und Depravation zugleich. Eine Revolte ist nämlich dort unmöglich, wo es keine innere Freiheit gibt. Ein Narkotiker kann unmöglich gegen Narkotika revoltieren. Deshalb ist die phantomatische Falle so gefährlich; das ist eine Hölle, die einem alle Hoffnungen raubt, gerade wenn man sie verläßt.
Somit hat Richard Geis eigentlich nicht das Buch geschrieben, das er vorhatte: er blieb auf halbem Wege zwischen Pornographie und ihrer Reduktion auf das spöttisch Absurde hängen. Beide erwähnten Autoren erlebten ein Fiasko: der erste, weil das unbedacht berufene Element der Phantomatik ihm den Text durch Paralogien sprengte; der zweite, weil er — in Übereinstimmung mit der phantomatischen Voraussetzung — diese in Situationen verstrickte, in denen nur herabwürdigende Widerwärtigkeiten geboren werden konnten, die er unbedingt als geschlechtliches Paradies ausgeben wollte. Deshalb schufen beide nichtintendierte Grotesken, Werke, die gerade nicht dort ironisch-spöttisch sind, wo ihre Autoren Wert darauf legten.
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Quellenhinweise
Bernd Flessner, Arch äologie im Cyberspace
aus: Wirklicbkeitsmaschinen. Cyberspace und die Folgen. Herausgegeben von Karlheinz Steinmüller (Zukunftsstudien 11}, Seite 25 - 38. © Julius Beltz Verlag, Weinheim 1993. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Julius Beltz Verlages Weinheim.
Stanislaw Lem, Test Aus dem Polnischen von Caesar Rymarowicz
aus: Stanislaw Lem, Termi nus und andere Geschichten des Piloten Pirx. suhrkamp taschenbuch 740, Seite 7-48. © Insel Verlag Frankfurt am Main 1978
Stanislaw Lem, Die Patrouille Aus dem Polnischen von Roswitha Buschmann
aus: Stanislaw Lem, Die Jagd. Neue Geschichten des Piloten Pirx. suhrkamp taschenbuch 302 , Seite 7-31. © Insel Verlag Frankfurt am Main 1973
Stanislaw Lem, Der bedingte Reflex Aus dem Polnischen von Caesar Rymarowicz
aus: Stanislaw Lem, Termi nus und andere Geschichten des Piloten Pirx. suhrkamp taschenbuch 740, Seite 123-138. © Insel Verlag Frankfurt am Main 1978
Stanislaw Lem, Die Wonnen der Psychemie Aus dem Polnischen von I. Zimmermann-Göllheim
aus: Stanislaw Lem, Der futurologische Kongreß, s uhrkamp taschenbuch 534, Seite 102-139. © Insel Verlag Frankfurt am Main 1974
Stanislaw Lem, Die Phantomologie I Aus dem Polnischen von Friedrich Griese
aus: Stanislaw Lem, Summa technologiae. su hrkamp taschenbuch 678, Seite 319-392. © Insel Verlag Frankfurt am Main 1976
Stanislaw Lem, Die Phantomologie II
Aus dem Polnischen von Beate Sorger und Wiktor Szacki aus: Stanislaw Lem, Ph antastik und Futurologie I, Seite 182-197. © Insel
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