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Die Entdeckung der Virtualität.

Die Entdeckung der Virtualität.

Titel: Die Entdeckung der Virtualität. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem , Bernd Flessner
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wissenschaftliche Methode zur Simulation von Situationen, die normalerweise der Empirie kaum oder überhaupt nicht zugänglich sind, sondern vor allem »der Kulminationspunkt, auf den zahlreiche Unterhaltungstechniken der Gegenwart hinzielen« (Lem 1981 a, 345). Die virtuelle Realität bietet wie keine andere Form der Realitätsflucht die Möglichkeit, eine unüberschaubar gewordene und als negativ empfundene Welt innerhalb von Sekunden gegen ein wunschgemäßes Universum mit phantastischer Ästhetik und überschaubaren Gesetzen einzutauschen. An der Funktion der Phantomatik als Wirklichkeitsprothese, die die abgenutzten Bilder und Phantasiedefizite unserer alten modernen Wirklichkeit zu kompensieren vermag, läßt Lem keinen Zweifel.
       Noch handelt es sich bei Cyberspace und anderen Verfahren der Computersimulation um künstliche Realitäten, die auf Grund ihrer Unvollkommenheit bei bewußter Rezeption noch ohne weiteres als synthetisch zu erkennen sind. Gustatorische, taktile und olfaktorische Reize lassen sich bislang nicht in Echtzeit generieren, und den visuellen Schöpfungen der Großrechner fehlen noch immer wesentliche Eigenschaften unserer optisch erfaßbaren Realität. Lediglich synthetische Klänge reichen an die Qualitäten konkreter Geräusche und Instrumente heran. Doch die Tendenz zur perfekten Synthetisierung sämtlicher Reize ist ebenso eindeutig wie Lems Warnung vor der totalen computergenerierten Welt: »Der phantomatisierte Mensch ist, was Menge und Inhalt der zu ihm gelangenden Information betrifft, der Gefangene der Maschine: von außen erreicht ihn keine sonstige Information« (Lem 1981 a, 331).
       Angesichts dieser nüchternen Prognose, die Lem in einer Zeit geleistet hat, in der die NASA gerade ihr neues Gemini-Raumschiff unbemannt im Orbit testete und IBM mit der 360er-Reihe den ersten standardisierten Computer der Welt auf den Markt brachte, läßt sich das enthusiastische Staunen, mit dem Fans und Medien auf Cyberspace reagieren, kaum verstehen. Einerseits handelt es sich bei Cyberspace lediglich um einen weiteren, wenn auch bedeutenden Schritt der Bewußtseinsindustrie auf dem Weg zur finalen Unterhaltungstechnologie, andererseits stellt Cyberspace nur die Spitze des Eisbergs eines zeitalter-spezifischen Phänomens der Postmoderne dar, das größtenteils aus den medial konditionierten Wahrnehmungs- und Erfahrungsmodi dieser immer exakter definierten Epoche resultiert. Die Erfahrungswelt des postmodernen Menschen besteht nämlich längst überwiegend aus mittelbarer und nur noch zu einem geringen Teil aus unmittelbarer Wahrnehmung und Erfahrung. Und in einer derart strukturierten Erfahrungswelt, durchsetzt und vernetzt mit Monitoren, Computern, Datenbänken, Bildern und Bits, wird, so Wolfgang Coy, die »Verwechslung von Informationsabbild und Original (...) nicht nur in der Datenverarbeitung zum allseits akzeptierten Irrtum« (Coy 1985, 142). Ein Irrtum, der im Begriff ist, Konsens zu werden und keiner perfekten Phantomatik bedarf. Die einst gültige Differenz zwischen Fiktivem und Realem, zwischen Natürlichem und Künstlichem wird im Alltag längst schleichend aufgehoben, keineswegs also erst seit und durch Cyberspace. Fernsehbilder reichen da aus, um für die Welt gehalten zu werden. Dieses Phänomen der Postmoderne als Folge unserer Bilderwelten hat Dietmar Kamper als »Zusammenfall von Imaginärem und Realem« beschrieben, der seiner Ansicht nach bereits das nahende Ende der Geschichte signalisiert (Kamper 1987, 7). Lems Prognose für eine Welt, die keinen verbindlichen Realitätsbegriff mehr kennt, klingt da nicht weniger pessimistisch: Außerdem wird sich in einem Leben, wo Wahrheit und Fiktion ununterscheidbar geworden sind, in einer Welt, wo Echtes und Trügerisches subjektiv nicht mehr zu trennen sind, manch einer derart verirren, daß er

    den Ausgang aus diesem Labyrinth nicht mehr findet (Lem 1981 a, 347).

    Die phantomatisierte Welt

    Soviel zu Lems theoretischen Reflexionen, die ihn zwar vor dem naiven Zukunftsoptimismus eines Arthur C. Clarke oder Isaac Asimov bewahrt haben, jedoch hinter seine literarische Auslotung des historischen Ortes Zukunft zurückfallen. Denn erst seine Romane und Erzählungen, in denen Lem die konjunktivischen und spielerischen Qualitäten der Literatur souverän zu nutzen versteht, offenbaren das ganze mögliche Ausmaß phantomatischer Wirklichkeiten. Unabhängig von wissenschaftlichen Extrapolationen und futurologischen

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