Die Entfuehrung
er.
Alice knuffte ihn. »Nicht so laut. Du weckst noch Tante Beezer und Onkel Ebenezer.«
»Und das würdet ihr ja nicht wollen«, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Die beiden fuhren zusammen. Es war ihre Tante. Ihre Augen waren hellwach, obwohl ihr sandfarbenes Fell noch zerzaust war. Aus dem Zimmer nebenan konnte Alice Onkel Ebenezers leises Schnarchen hören.
»Was gibt es denn?«, fragte Beezer. »Stimmt was nicht?« Ihr Blick huschte von ihrer Nichte zu ihrem Neffen und wieder zurück. »Wo ist Alistair?«
Es kam Alice fast so vor, als würde ihre Tante etwasUnangenehmes erwarten. Plötzlich bekam sie einen ganz trockenen Hals. »Er ist ... verschwunden«, sagte sie.
Ihre Tante legte ihr eine warme Hand auf die Schulter. Ohne sich umzudrehen, rief sie laut: »Ebenezer? Wach auf – Alistair ist verschwunden.«
Das grummelnde Schnarchen von Onkel Ebenezer brach auf der Stelle ab. »Ach herrje«, hörten sie ihn brummen. Seine Stimme war noch ganz belegt vom Schlafen. »Ach herrje ...« Wieder kam es Alice so vor, dass seine Reaktion, so unmittelbar und besorgt sie auch schien, eher schmerzlich als überrascht klang. Er kam ins Zimmer der Drillinge geschlurft. Auf seinem braunen Fell sah man noch die Druckstellen vom Kopfkissen.
»Ihr meint also, Alistair hat die Wohnung durch das Fenster verlassen?«, begann Tante Beezer.
»Genau«, sagte Alex ratlos. »Die Fensterläden waren offen und das Fenster auch, und die Tür ist noch durch die Kette gesichert.«
»Und an dem Fensterladen ist ein Wollfaden von Alistairs Schal hängen geblieben«, setzte Alice hinzu.
Ebenezer schob seine Nichte und seinen Neffen sanft vom Fenster weg und beugte sich selbst hinaus.
»Aha. Also, mir scheint, dass es drei Möglichkeiten gibt«, sagte Beezer und zählte sie an ihren Fingern ab. »Erstens: Er ist rausgefallen.«
Ebenezer, der noch halb aus dem Fenster hing, schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Wenn er gefallen wäre, würden wir ihn dort drei Etagen tiefer im Salatbeetliegen sehen. Aber da draußen ist keine Spur von ihm zu erkennen.«
»Zweitens: Er ist ausgebüxt. Vielleicht mithilfe eines Freundes und einer Leiter?«
Alice schüttelte den Kopf. »Alistair würde niemals davonlaufen. Dazu hat er doch gar keinen Grund. Außerdem würde er uns auf keinen Fall solche Sorgen bereiten.«
»Auf keinen Fall«, bestätigte Alex.
»Dann bleibt nur die dritte Möglichkeit«, sagte die Tante. Sie machte ein ernstes Gesicht. »Alistair ist entführt worden.«
2 TIBBY ROSE
W eit entfernt davon, über ein Gebirge und ein Meer und dann noch ein Gebirge hinweg, lebte eine junge Maus namens Tibby Rose. Wie es dazu gekommen war, dass Tibby Rose mit ihrem Großvater und ihrer Großtante in deren großem weißem Haus auf einem Berg am Rand von Tempelton lebte, war die dramatischste Geschichte, die ihr jemals in ihrem ansonsten ganz undramatischen Leben passiert war.
Vor zwölf Jahren war sie angekommen. Die Nacht war dunkel und mondlos und sehr windig gewesen. Großtante Harriet konnte sich noch besonders an den Wind erinnern. Als sie nämlich das erste Pochen hörte, dachte sie, es müsse wohl ein Ast der riesigen Eiche links am Haus sein, der an eine der oberen Fensterscheiben schlug. Aber nein, denn als der Wind einmal kurz nachließ, hörten sie beide ganz deutlich, dass das Klopfen von der Haustür kam.
Großvater Nelson war als Erster an der Tür. Er riss sie auf und sah zu seiner großen Freude seine Tochter Lucia davorstehen. Zwei Jahre zuvor war Lucia mitten in der Nacht davongelaufen, um einen Mäuserich zu heiraten, der »nichts als Ärger« bedeutete, so behauptete Großtante Harriet (die geholfen hatte, ihre Nichte großzuziehen, nachdem Lucias Mutter an Lungenentzündung gestorben war). Und bis zum heutigen Tag war das alles, was Tibby Rose über ihren Vater wusste. Großvater Nelson und Großtante Harriet weigerten sich, über ihn zu reden.
»Ich habe sie vor ihm gewarnt«, war alles, was Großtante Harriet jemals sagte, worauf Großvater Nelson jedes Mal wehmütig einwarf: »Ach, sie hat ihn eben geliebt, Harriet.«
Trotz der schroffen Worte damals, nach Lucias Verschwinden, gab es bei ihrer Rückkehr keine Vorwürfe. Sie küssten und umarmten sie und holten sie schnell aus dem tosenden Wind herein und zogen sie durch die dunkle Diele in die warme Küche. Doch als sie sie im Licht sahen, hielten Großvater Nelson und Großtante Harriet erschrocken die Luft an. Das einst so seidige Fell von Lucia war
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