Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
sich die Unterhaltungen mit Nils, alles wurde anders. Nils bemühte sich nach Kräften, die frühere Verbundenheit, das einstige Gleichgewicht wiederherzustellen – allerdings ohne Erfolg. Er vermochte nicht mehr zu Bernina durchzudringen, und so sehr sie sich ihrerseits wünschte, wieder die Alte zu sein, es gelang ihr nicht. Es war diese schwarze Wolke, die sie beherrschte, die sie von der Welt trennte.
Zu allem Überfluss war es dann auch noch wegen der Bürgerwehr zu Streitigkeiten zwischen ihnen gekommen. Die Teichdorfer hatten Nils Norby bei seiner Ehre gepackt. Wenn er schon so große Worte fand, sollte er auch Taten folgen lassen. Und beweisen, dass er ein Wolf und kein Schaf war. Seine Vergangenheit, die immer zwischen ihm und den Dörflern gestanden hatte, könnte nun die Brücke sein, die die beiden unterschiedlichen Seiten miteinander verband.
Bernina stand noch immer vor dem Hauptgebäude und lauschte in die nach dem wilden Hufgetrappel einsetzende Stille. Ihr Blick schweifte über die Gebäude und blieb an der nahen Wand aus Bäumen hängen. Verschwommene Bilder von dunkel gekleideten, Waffen tragenden Männern entstanden vor ihrem inneren Auge. Noch einmal ließ sie Nils’ Worte auf sich wirken. Gutgläubig. Vertrauensvoll. War sie das wirklich? Unwillkürlich musste sie an den Fremden denken, an diesen Mentiri.
Sie ging ins Haus und betrat die Wohnküche. Am gemauerten Kamin blieb sie stehen. Mit angehaltenem Atem begann sie nach dem Versteck zu tasten. Einer der quaderförmigen Steine ließ sich lösen – dahinter befand sich ein Säckchen mit Münzen, eine kleine Rückversicherung für schwere Zeiten und Pechsträhnen. Gutgläubig, dachte Bernina erneut, vertrauensvoll …
Im nächsten Moment atmete sie erleichtert auf. Das Geld war noch da. Beim Zurückschieben des Steins fiel ihr Blick auf einige Papierfetzen, die aus der kalten Asche herausragten wie kleine Bergspitzen. Papier wurde auf dem Hof so gut wie nie benutzt, es war etwas Wertvolles, Bernina sparte es für Briefe auf – jedenfalls gab es gewiss kein Papier, das im Feuer enden würde.
Sie barg einen Fetzen nach dem anderen aus der Asche. Die Ränder waren versengt, einzelne Begriffe dennoch lesbar. Offenbar hatte es sich um eine Flugschrift oder Ankündigung gehandelt, wie Bernina an dem bleichen, abperlenden Druck der Buchstaben erkannte. Solche Schriften, oft mit Widerstandsparolen und der Abbildung eines Holzschnittes versehen, waren besonders häufig in Umlauf, wenn der Krieg am heftigsten loderte. Den Obrigkeiten war diese Art der Verbreitung ein Dorn im Auge, allerdings gelang es ihnen nicht, sie zu unterbinden.
Von wem stammte dieses Papier?, fragte sich Bernina und kannte doch vom ersten Moment an die Antwort. Natürlich von Mentiri. Sie hatte ihn am Vorabend vor dem Kamin stehen sehen. Nur dass die Fetzen nicht vollständig verbrannt waren, weil das Feuer bereits dabei gewesen war, zu erlöschen. Bernina spielte mit den angesengten Überbleibseln, und es gelang ihr, ein paar davon zusammenzusetzen. Mit gerunzelter Stirn las sie die lückenhaften Wortgirlanden: ›Auktion der Büche… am 2. Tag des Au… zur achten Abendstun… im Gasthaus zum … nen … orn‹.
Sie ließ das brüchige Papier in den Kamin fallen und fuhr sich durch ihr Haar, dessen Farbton an Honig erinnerte und das ihr weit über die Schultern fiel. Mehr noch als zuvor hielt Mentiri ihre Gedanken auf Trab. Auch wenn sie sich nicht recht erklären konnte, weshalb, machte sie sich erneut auf den Weg zu der Kammer, in der der eigenwillige Besucher die Nacht verbracht hatte.
Bernina sah Mentiri vor sich, als wäre er hier: das seidenbesetzte elegante Wams, die Schnallenschuhe, das samtige Barett auf beinahe unnatürlich glänzendem schwarzem Haar, die Klappe auf dem linken Auge, in der Hand ein blütenweißes Rüschentuch. Nur der ungepflegte zerzauste Bart passte nicht so recht ins Bild … Keine Frage, schon auf den ersten Blick eine außergewöhnliche Erscheinung. Weniger wegen der kostspieligen farbenfrohen Kleidung, eher aufgrund der Art, wie Mentiri die Welt betrachtete, aus dem ihm verbliebenen, schalkhaft funkelnden Auge. Und ausgerechnet dieser Mann hatte plötzlich vor dem Petersthal-Hof gestanden und sich suchend umgesehen.
Als Bernina ihn ansprach, sagte er, er habe sich verlaufen. Der Schweiß auf seinem vor Anstrengung geröteten Gesicht und sein rascher Atem bestätigten zwar die Erklärung, doch haftete ihm von Anfang an etwas
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