Die Entscheidung liegt bei dir!
Kränkung noch die der Hirnforschung, die uns zu Robotern erklärt, die von der Natur so programmiert sind, dass sie es gar nicht merken. Aber schon oft haben wissenschaftliche Erkenntnisse unser Bild von uns und der Welt zu verändern gesucht – mit wenig konkreten Konsequenzen. Abends geht für die meisten Menschen immer noch die Sonne unter, obwohl wir seit langem wissen, dass sich die Erde dreht. Unser Menschenbild mit den Kernbestandteilen Selbstbewusstsein, Freiheit und Verantwortung wird sich auch diesmal wieder als erstaunlich stabil erweisen. Warum? Weil die simple Intuition gegen die Erkenntnisse der Hirnforscher spricht. Wir |225| erfahren uns in unseren alltäglichen Handlungen als Wählende, insofern Freie. Wer mehrmals täglich »Ich will!« gesagt hat, für den ist sein freier Wille zweifelsfrei. Wir können uns unsern freien Willen einfach nicht wegdenken. Wer in einem Restaurant sitzt und zwischen Erbsensuppe und Linsensuppe entscheiden muss, der kann sich nicht einfach weigern, seinen Willen auszuüben. Denn auch das wäre eine Willensentscheidung. Und unser alltägliches Moralbewusstsein funktioniert unausrottbar gleich, auch wenn wir vorher einen Vortrag über die »Illusion der Willensfreiheit« gehört haben. Das alles kann also durch den Determinismus nicht beunruhigt werden. Und deshalb prallen die Steinwürfe der Hirnforschung regelmäßig an unserer Lebenswelt ab. »Die Erfahrung«, so Friedrich Schiller vor 200 Jahren, »beweist die Freiheit. Wie kann die Theorie sie verwerfen?«
Aber noch aus einem anderen Grund ist diese Debatte für das tatsächliche Leben kaum von Bedeutung: Die Willensfreiheit ist
praktisch
. Wie brauchen sie. Wir könnten gar nicht handeln ohne die Voraussetzung eines freien Willens. Selbst wenn wir von einer vollständigen Determiniertheit unseres Willens überzeugt wären, müssten wir doch leben, als ob wir einen freien Willen hätten. Die Annahme eines freien Willens ist eben ein bestimmtes kulturelles Konzept, mit dessen Hilfe wir unser Verhältnis zur Welt bestimmen. Dieses Konzept ist hilfreich und praktisch. Oder anders formuliert: Die Willensfreiheit muss nicht bewiesen werden, sie wird unterstellt. Und diese Unterstellung ist die Voraussetzung für unser Zusammenleben. Ohne sie ist Gesellschaft nicht denkbar. Sie mag sogar tatsächlich vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus eine Illusion sein. Aber dann gehört sie zu den
praktischen
Illusionen, ohne die wir nicht leben können – ebenso wie Wahrheit, Gott, Verstehen, Zeit, Liebe, Schuld. Man hat |226| Leute, denen man vorher den Determinismus »bewiesen« hat, virtuelle Entscheidungen treffen lassen – mehrheitlich ließen die Probanden ihrem Egoismus, ja bösen Willen freien Lauf. Hingegen versuchten jene Versuchspersonen, ihre Motive moralisch zu kontrollieren, die von ihrer persönlichen Zurechenbarkeit überzeugt waren. Und im antiken Athen, so wird erzählt, habe einmal ein Dieb vor Gericht gesagt, zu stehlen sei ihm vom Schicksal vorherbestimmt worden. Worauf der Richter sagte: »Mag sein, aber auch Prügel dafür zu bekommen.«
Die eigentlich interessante Frage aber ist, warum die Ergebnisse der Hirnforschung auf so breite Resonanz stoßen. Was macht die Idee, es gäbe keinen freien Willen, so attraktiv? Mündige Bürger, die problemlos täglich hundertfach »ich« sagen, verspüren offenbar tiefe Genugtuung, wenn sie erfahren, dass sie aus Sicht ihres Hirns gar nicht existieren. Begeistert stürzen sie sich in die Bugwellen der Selbstauslöschung, wenn sie darüber aufgeklärt werden, dass ihre Liebe und ihr Begehren zerebrale Verrücktheiten sind, die auch ohne ihr Zutun stattfinden. Jubelnd berauscht man sich an der Nachricht, dass man sein eigenes Erleben (»Ich kann auch anders«) eintauschen kann gegen die Diktatur des limbischen Systems. Warum? Nun (und hier schließt sich der Kreis zu meinen Überlegungen zu Beginn dieses Kapitels), es ist ein Erlösungsversprechen. Eine Entschuldigungskulisse. Die Annahme, alles sei Schicksal und programmiert, verspricht Entlastung von Verantwortung. Sie schützt uns von gegen die Fröste der Freiheit und entbindet uns von der Pflicht zur Autonomie. Man kann sie als Alibi für Nicht-Handeln missbrauchen und so unsere Welt einfacher und de-komplexer machen.
Das ist es also, was die Naturwissenschaften bereitstellen: Trost. Sie mildern die tägliche Anstrengung, des eigenen |227| Glückes Schmied sein zu müssen. Sie erklären Schuld und Scheitern,
Weitere Kostenlose Bücher