Die Entscheidung liegt bei dir!
entstehen. Erst das Bewusstsein, ein Individuum in meiner individuellen Besonderheit zu sein, macht es möglich, auch den anderen in seiner Individualität anzuerkennen. Global gesehen geschehen die meisten Verbrechen nicht, um sich »egoistische« Vorteile zu verschaffen, sondern im Namen einer Ideologie, einer Flagge, eines Führers, einer Religion, einer Gemeinschaft – im Namen von etwas, »das größer ist als ich«. Das ist die Unschuld des Henkers.
Im Namen der Kollektivmoral ist unendlich viel Blut geflossen. In dem berühmten Milgram-Experiment haben ganz normale Menschen unsichtbaren, aber hörbaren Versuchspersonen schier unerträgliche Schmerzen zugefügt. Ihnen war gesagt worden, das Zufügen von Elektroschocks sei ein wissenschaftliches Experiment. Die Neigung, sich einer Autorität (in diesem Fall der »Wissenschaft«) zu unterwerfen, war viel höher ausgeprägt als das Mitgefühl für den leidenden Menschen. Man litt zwar unter den (simulierten) Schmerzensschreien der Opfer, äußerte auch Zweifel und Bedauern, drückte dann aber doch die nächsthöhere Voltstufe. Die häufigst geäußerte Rechtfertigung war: »Ich würde ja jetzt aufhören, wenn es nach mir ginge.« Dabei ging es nach ihnen, aber das wollten die meisten nachher nicht wahrhaben. Es ist nicht das »Ich«, das die Tür zum Bösen öffnet. Es ist die Abdankung des »Ichs«.
|233| Wenn wir die Verantwortung an die Entscheidung des Einzelnen zurückbinden, dann bejahen wir logischerweise auch eine moralische Leitlinie. Verantwortung für unser Leben, unser Glück und unser Wohlbefinden übernehmen heißt: Andere sind nicht dafür da, unsere Diener zu sein und unsere Erwartungen zu erfüllen. Niemand hat das Recht, auf Kosten eines anderen Menschen zu leben. Wir betrachten dann nicht den anderen als Mittel zu unserem Zweck, so wie wir nicht Mittel zu seinem Zweck sind. Wir respektieren das Eigeninteresse eines jeden Individuums.
Damit ist keine Rücksichtslosigkeit gerechtfertigt. Damit ist keine Asozialität entschuldigt. Und es wäre ein Trugschluss, zu glauben, eine solche Haltung sei kalt und gefühllos. Das Gegenteil ist gerade der Fall. All unsere Bosheit gründet in unserer Sucht, andere zu beherrschen, zum Beispiel durch erpresserische Wohltaten, die ihnen Dank abnötigen und sie von uns abhängig machen.
Mit dem »Ich« ist vielmehr der Punkt beschrieben, den die Ethikforscher schon lange kennen: Ethik hat nur dann eine Chance, wenn sie auf Egoismus setzt. Alles Leben ist egoistisch, hat den Willen zur Macht, wie Nietzsche sagt. Wir haben immer nur unsere eigenen Empfindungen und Gefühle, die unsere Welt ausmachen. Wir spüren ganz einfach keine anderen. Es ist also nicht moralische Verderbtheit, sondern unsere Natur, die uns zu Egoisten macht. Wir sind so geschaffen. Wir können aus unserem eigenen Erleben nicht heraus. Wir können gar nicht anders, als unseren eigenen Vorteil zu verfolgen – wie immer der aussieht. Der aufgeklärte Egoist aber weiß, dass er sich selbst etwas Gutes tut, wenn er anderen etwas Gutes tut. Er weiß auch, dass er, wenn er anderen schadet, sich selbst früher oder später schadet. Glück auf Kosten anderer währt in der Regel nur kurz. Er will daher |234| seinen Mitmenschen aus Eigennutz nicht schaden. Nur eine solche Klugheitsmoral überfordert den Menschen nicht.
Das selbstbestimmte Leben bejaht, was öffentlich angeklagt wird. Es stellt fest: Ohne »Ich« gibt es kein »Wir«. Ein »Wir« kann heute nicht mehr als Vorgabe von oben gedacht werden. Es bedarf der Zustimmung der Einzelnen. Es ist ein selbstbestimmtes »Wir«. In einer Welt der Widersprüche muss der Einzelne ein hohes Maß an Autonomie entwickeln. Autonomie bedeutet nicht Bindungslosigkeit oder Ellbogengesellschaft. Und eine bewusste Freiwilligkeit entwickelt immer mehr Überzeugungskraft und Bindungsenergie als gesetzte Vorgabe.
Das
eigene
Leben ist deshalb immer auch ein moralisches Leben auf der Suche nach dem Dasein mit anderen und für andere. Das darf nicht mit historischen Ladenhütern – Klasse, Familie, Tradition – verwechselt werden. Diese Verwechslung hat der deutsche Gesellschaftswissenschaftler Ulrich Beck das »egoistische Missverständnis« genannt.
Dieser Neuentwurf muss getragen werden vom Vertrauen in die Ich-Kultur. Nur so sind Selbstbestimmung und Selbstverpflichtung in Gemeinschaften denkbar. Wir müssen auf das moralische Potenzial des Einzelnen setzen. Es kommt darauf an, den Denkrahmen in unserer
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