Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
lächelte. Sie fragte sich zum wiederholten Male wie ein Bär wie Ursa Major zu solch einer zierlichen Schönheit gekommen war.
Libra war das totale Gegenteil ihres Mannes. Langgliedrig, zart, mit kurzem feinem Fell, langen, seidenen Haaren und einem ebensolchen Schweif.
Gemini und Pollux hatten ihre Haarfarbe geerbt, jedoch nicht ihren zierlichen Körperbau. Gemini war robust, aber dennoch schlank. Pollux kam ganz nach seinem Vater. Seine kräftige Hinterhand verlieh ihm Stärke und Ausdauer, ließ ihn aber an Schnelligkeit einbüßen. Nicht nur Hravn schlug ihn spielend auf kurzen Distanzen. Gemini lief ihrem Bruder mit Leichtigkeit davon und zog ihn regelmäßig damit auf.
Pollux spielte dann immer den Empörten, doch beide wussten, dass er auf längeren Strecken der Gewinner war.
Libra schickte sich an, den riesigen Kessel vom Feuer zu heben. Pollux eilte zu ihr hinüber.
»Lass nur, Mutter. Ich mach das schon.«
Mit diesen Worten hievte er die Suppe vom Herd und stellte den Kessel auf den massiven Tisch. Sora und Gemini hängten ihre Lederjacken an die Wand und begaben sich zu Tisch. Sora setzte sich auf ihren Heuballen, während sich die Kentaurenfamilie im Stroh niederließ.
»Hravn wird immer besser, Vater«, sagte Pollux mit einem anerkennenden Blick auf Sora, während er sich großzügig bediente. Sora brach sich ein Stück vom deftigen Brot ab. Es war noch warm.
»Wer hätte das gedacht«, brummte Ursa Major und schlürfte seine Suppe durch den bauschigen Bart.
»Sein erster Flug steht kurz bevor«, fuhr Pollux fort. »Seine Flügel sind vollends ausgewachsen. Es ist nur noch eine Frage von wenigen Tagen. Unglaublich«, schmatzte er mit vollem Mund und fing sich einen tadelnden Blick seiner Mutter ein.
»Hmm«, brummte Ursa Major mit dem Löffel zwischen den Zähnen.
Gemini kaute demonstrativ zu Ende, bevor sie sprach.
»Ohne Sora würde Hravn ein trauriges Leben führen«, sagte sie dann ernst. Sora schüttelte abwehrend den Kopf.
»Ihr hättet bestimmt jemand anderen gefunden«, meinte sie, obwohl sie wusste, dass das hier keiner glaubte.
Aber wer wusste das schon so genau? Immerhin war sie lediglich zufällig zur rechten Zeit hier angekommen.
»Nein, ganz bestimmt nicht«, widersprach Gemini, die Soras Zufallstheorie kannte. »Es war vorherbestimmt, da bin ich mir sicher!«, sagte sie ernst.
Sora löffelte nachdenklich.
Konnte Gemini recht haben? Konnten Hravn und sie füreinander vorherbestimmt sein?
Sora glaubte eigentlich nicht an solche Dinge. Sie liebte logische Erklärungen. Dennoch faszinierten sie Geheimnisse aller Art. Auf Euripides hatte Rheas Orakel sofort ihr Interesse geweckt. Und sie erinnerte sich, als Kind mit Holzstückchen mystischer Magier gespielt zu haben. Ihre Faszination für das Übernatürliche hatte sie hierhergeführt, nach Trymhem in Jättehem auf Godheim. Einem fremden und doch so vertrauten Planeten, auf dem es Fabelwesen und laut den Kentauren auch Magie gab. Und hier war sie Hravn begegnet.
Nur wenige Tage nach ihrer Ankunft hatte Sora den schwarzen Pegasus auf einer etwas abgelegenen Koppel entdeckt – allein und durch einen kräftigen Holzzaun von seinen Artgenossen getrennt. Er hatte sie abwartend angesehen. Pechschwarz und mit blauschwarzen Schwingen, die ausgefranst und glanzlos an seinen Seiten herunterhingen. Er war in schlechtem Zustand. Nur seine Augen verrieten Stolz und Unnachgiebigkeit.
Sora folgte einem Impuls. Sie kletterte durch das Gatter und setzte sich vor dem Tier ins Gras. Der erste Schnee war noch nicht gefallen, doch es war schon kalt und feucht. Ihr Amulett wärmte sie und so saß sie lange dort. Der Pegasus hatte sie beobachtet. Aus wachsamen Augen und auf Distanz. Sora musste irgendwann ans Gatter gelehnt eingeschlafen sein, denn als sie mit einem Ruck erwachte, stand das schwarze Tier über ihr und schnaubte ihr ins Ohr.
»He, lass das«, murmelte sie schlaftrunken. »Das kitzelt.« Doch das Tier ließ nicht ab. Es untersuchte und beknabberte Sora von oben bis unten, während sie versuchte, der neugierigen Nase auf mehr oder weniger elegante Weise zu entkommen. Als sie endlich wieder auf die Füße kam, klopfte sie sich die Hose sauber und lehnte sich ans Gatter, wo sie dem Pegasus geistesabwesend die Ohren kraulte und sich gähnend streckte.
Und da sah sie ihn: Zodiak! Er stand aufrecht und bewegungslos wie ein Kriegerstandbild und starrte zu ihr herüber. Nur sein langes, schwarz-weißes Haar wehte leicht im Wind.
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