Die Erben von Somerset: Roman (German Edition)
nach Mary, vorsichtig in ein sauberes Taschentuch wickelte. Am Abend würde er sie zu Hause in eine handgeschnitzte Briefschatulle, das einzige Erinnerungsstück an seine Mutter, das er behalten hatte, legen und für Rachel aufbewahren. Er nahm die Krawatte ab, öffnete seinen Hemdkragen und ging in die angrenzende Toilette, um sich das Gesicht zu waschen. Nach dem Abtrocknen träufelte er Tropfen in seine müden Augen.
Wieder an seinem Schreibtisch, drückte er auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Susan, ich gebe Ihnen den Nachmittag frei. Hängen Sie das ›Geschlossen‹-Schild an die Tür und schalten Sie den Anrufbeantworter ein.«
»Alles in Ordnung, Amos?«
»Ja, Susan.«
»Auch mit Miss Mary?«
»Ja.« Natürlich glaubte sie ihm nicht, doch er wusste, dass Susan, die seit zwanzig Jahren seine Sekretärin war, ihre Mutmaßungen über Probleme ihres Chefs oder Marys nicht ausplaudern würde. »Machen Sie sich ein paar schöne Stunden.«
»Tja, dann also bis morgen.«
»Ja, bis morgen.«
Morgen. Beim Gedanken daran, was der folgende Tag für
Rachel, die im Moment bestimmt gerade die Baumwollfelder inspizierte, bringen würde, bekam er ein flaues Gefühl im Magen. Morgen wäre alles vorbei, alles, worauf sich ihr gesamtes Erwachsenenleben konzentriert hatte. Mit ihren neunundzwanzig Jahren würde sie viel Geld besitzen. Natürlich konnte sie von vorn anfangen – vorausgesetzt, sie schaffte es, sich von dem Schock zu erholen –, allerdings mit Sicherheit nicht in Howbutker und anders, als er sich die Zukunft nach dem Ableben Percys für sich selbst vorgestellt hatte, des letzten der drei Freunde, die praktisch seine Familie gewesen waren. Amos betrachtete Percys Enkel Matt als Neffen, doch wenn er heiratete, würde seine Frau mit ihrer Familie vermutlich nicht die Lücke schließen wollen, die Ollie, Mary und Percy hinterlassen hatten. Bei Rachel wäre das etwas ganz anderes gewesen. Sie liebte ihn wie er sie, und ihre Tür hätte ihm immer offen gestanden. Amos, der alte Junggeselle, hatte sich darauf gefreut, dass sie in Howbutker, im Herrenhaus der Tolivers, wohnen, die Erinnerung an Mary am Leben erhalten, heiraten und Kinder aufziehen würde, die er im Winter seines Lebens lieben und verwöhnen könnte. Marys Beschluss bedeutete das Ende seiner Träume.
Er öffnete seufzend die Tür der Kredenz. Normalerweise trank er nicht vor sechs Uhr abends, und auch dann höchstens zwei Schuss Scotch mit der doppelten Menge Soda. Nun jedoch holte er die Flasche aus der Kommode, schüttete das Wasser aus seinem Glas und füllte es ohne zu zögern bis zur Hälfte mit Johnny Walker Red Label.
Mit dem Glas in der Hand trat er ans Verandafenster, von wo aus er einen kleinen Garten mit den für den Osten von Texas typischen Sommerblumen überblicken konnte – rosafarbene Schlüsselblumen, blauer Bleiwurz, violette Wandelröschen und gelbe Kapuzinerkresse, die sich an der Steinmauer hochrankten. Den Garten hatte Charles Waithe, der Sohn des
Kanzleigründers, als stille Zuflucht vor den anstrengenden Aufgaben seines Berufs angelegt. Heute beruhigte der Anblick Amos leider nicht, sondern weckte Erinnerungen. Der Tag kam ihm in den Sinn, an dem Charles, damals um die Fünfzig, sich von ebendiesem Fenster abgewandt und Amos gefragt hatte, ob er Juniorpartner werden wolle. Amos war verblüfft und höchst erfreut gewesen. Das Angebot stand am Ende von ereignisreichen achtundvierzig Stunden: Zuerst hatte er William Toliver sein Zugticket überlassen, dann Mary auf der Treppe gesehen und schließlich nicht nur ihren Mann, eine Lokalgröße, sondern auch den mächtigen Percy Warwick kennengelernt. Alles war so schnell geschehen, dass ihm immer noch schwindelig wurde bei dem Gedanken daran, wie gut das Schicksal es mit ihm gemeint hatte: eine feste Anstellung in seinem erlernten Beruf, ein Zuhause und Freunde, die sich um ihn kümmerten.
An jenem Morgen Anfang Oktober 1945 hatte Amos, der soeben aus der Armee entlassen worden war, weder gewusst, was er arbeiten, noch wo er wohnen sollte, und nach Houston zu seiner Schwester gewollt, die er kaum kannte, als der Zug in einem kleinen Nest mit folgendem Schild am Bahnhof anhielt: »Willkommen in Howbutker, Herz der Kiefernwälder von Texas«. Während er sich dort kurz die Beine vertrat, war ein Teenagerjunge mit grünen Augen und rabenschwarzen Haaren auf den Schaffner zugerannt und hatte gerufen: »Nicht losfahren! Nicht losfahren!«
»Hast du eine Fahrkarte, mein
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