Die Erdfresserin
aller Kraft ein, die Augen fest geschlossen, ich wollte die Gegenwart ausatmen und meine Vergangenheit hineinholen. In meinen Kopf, vor meine Augen. Wer war er, dieser Mann, der so viel Platz in unserem Haus bekam und dennoch so wenig mit uns zu tun hatte, wie roch er, was tat er? Liebte er mich wohl, wie meine Mutter mich liebte? In diesen Augenblicken zog ich meine fast immer rinnende Nase aus den starren Stoffbahnen hervor und wandte mich ab. Wenn das so war, konnte er mir mit seiner Vergangenheit gestohlen bleiben. Männer waren nicht wie Mutter, beruhigte ich mich. Männer waren laut und herrisch und hielten sich nicht zurück, weder mit dem Lachen noch mit dem Furzen, noch mit unflätigem Schimpfen, sie waren nicht leise und gefährlich wie meine Mutter, sie waren laut, leicht einzuschätzen in ihrer Grobheit. Sie waren lustig, vor allem wenn sie ein wenig, jedoch nicht zu viel getrunken hatten.
Aber mein Vater, wurde meine Mutter nicht müde zu sagen, mein Vater sei ein ganz anderer gewesen, ein Stiller, ein Gerechter. Ich kehrte also erneut in die Bibliothek zurück. Ich nahm mir Bücher heraus, später, als ich sie bereits lesen konnte, hörte ich auf, meine Nase in die Vorhänge zu drücken, und steckte sie lieber zwischen die engbedruckten Buchseiten. Ich musste Vaters Botschaften entschlüsseln, die er mir hinterlegt hatte. Ich musste, so dachte ich, meiner Mutter voraus sein, um ihr entkommen zu können. Die meisten blieben mir ein Rätsel, ich hatte keine Geduld, den Geschichten lange zu folgen, ich stellte mir andere Dinge vor, und meine eigenen Geschichten überholten die gelesenen Sätze, brachen aus, legten sich über sie, ich wollte prägen und nicht geführt werden, so wie auch er gewesen war, frei und unabhängig.
Meine Schwester schlich mir oft nach und bettelte mich an, ihr vorzulesen, ihre Hände waren wesentlich geschickter als ihre Gedanken, die immerzu stolperten, sich unterwegs verhedderten, auf halbem Wege von ihr wieder im Stich gelassen wurden.
»Das verstehe ich nicht«, sagte sie, »erkläre es mir.«
Manchmal hatte ich keine Lust und erfand Dinge, die gar nicht in den Büchern vorkamen, sie jedoch hatte ein gutes Gedächtnis, die nicht fertig gedachten Sätze lagen darin für Jahre verwahrt, eine Kiste, die schwer und grob, aber beständig gezimmert war, und sie holte die hingeworfenen Märchenbrocken für mich einzeln wieder daraus hervor, wenn ich bereits keine Ahnung mehr hatte, was ich ihr erzählt hatte, um sie loszuwerden.
»Sag Mutter, dass sie dir vorlesen soll«, sagte ich, und sie ging gehorsam weg, um nach kurzer Zeit wieder mit ihrem Buch aufzutauchen.
»Mutter hat keine Zeit«, lautete die übliche Erklärung, und ich seufzte, nahm das Buch und belog sie erneut.
Jedes vermeintlich gelüftete Geheimnis rief in diesem Raum stets neue herbei, es war, als wäre ich der Zauberlehrling und die Bücher wenig hilfsbereite Geister, die mich umso mehr verhöhnten, je mehr ich ihnen auf die Schliche kommen wollte. Volksmärchen, Sagen und Liederbücher wechselten sich ab mit wissenschaftlich anmutenden Aufsätzen, die ich nach spätestens zwei Seiten wieder aus der Hand legte. Bei meinem sonntäglichen Stöbern fiel mir ein Buch in die Hände, das neben dem Titel eine handgeschriebene Widmung trug, ich kannte die Schrift meines Vaters, obwohl ich seine Stimme nicht kannte, manche Bücher waren voller zwischen die Zeilen gekritzelter Bemerkungen, Nachträge, Widersprüche, die mit Rufzeichen versehen waren. Aus einigen Büchern waren mir ganze Seiten voller Notizen entgegengefallen, ausgebleicht von der Sonne, von einem Meeresdunkel zu einem Kornblumenhell, vermutlich vor meiner Geburt niedergeschrieben und nach seinem Verschwinden nie mehr ans Tageslicht gekommen bis zu dem Augenblick, als ich die schützenden, lederbezogenen Buchdeckel aufriss auf der Suche nach ihm.
»Lies das nicht«, sagte meine Mutter, als ich ihr erstmals schwitzend vor Aufregung diese Notizen gebracht hatte. »Wehe dir«, und sie klang das erste Mal seit langer Zeit ängstlich und schlug mich, als ich die Papiere nicht sofort wieder in ihrem Versteck verstauen wollte. Dann nahm sie mir das Buch weg und versperrte die Bibliothek, und ich verbrachte mehrere Wochen damit, mit verschiedenen Drähten und Stöckchen an dem verrosteten Schloss herumzuexperimentieren, bis der Raum wieder mir gehörte: Ich hatte Blut geleckt, ich hatte das Gefühl, dass eine Erklärung für alles, was in diesem Haus geschah,
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