Die Erdfresserin
nur in diesem Raum zu finden wäre.
Das Buch wirkte ein wenig abgegriffen, hatte einen Stoffbezug und schwarze Lettern, in denen »Der Golem« auf die Titelseite geprägt worden war. Golem, das sagte mir nichts, aber Vaters Bücher bedeuteten mir selten etwas Bekanntes, und ich hatte längst aufgegeben, mir einen Reim auf die Dinge machen zu wollen, die ihn interessiert hatten. Der Golem also, auch gut, dachte ich, schlug die erste Seite auf und entdeckte den Namen meiner Mutter.
Das war das erste Buch der Bibliothek, das eine Widmung trug, er hatte es wohl für sie gekauft, absurd, ich hatte meine Mutter noch nie lesen gesehen. Wenn sie mit der Hausarbeit fertig war, und bevor sie sich mechanisch in die nächste stürzte, saß sie manchmal reglos in ihrem Lehnstuhl und sah starr aus dem Fenster in den Hof hinaus. Sie saß da wie eine übergroße Puppe, mit bewegungslosen Augen, die sich reptilienhaft nur selten mit einem Blinzeln schlossen.
Ich raste die steile Treppe hinab, in die Küche. Eine Suppe köchelte auf dem Herd, hexenhaft entwichen Dampfschwaden aus dem Topf. Die Küche roch feucht nach Gewürzen und Pilzen. Auf dem Holztisch lag ein Huhn, das mir seine Schenkel nackt entgegenspreizte. Ein paar helle Federn lagen noch auf den Dielen verstreut zu Füßen meiner Mutter, dünne Füße wie weiße helle Stöckchen, die in Filzpantoffeln mündeten. Sie schwieg, sah mich lange und bohrend an, schlug das Buch zu, das ich ihr mitgebracht hatte, und ging wortlos aus dem Raum.
»Warum machst du das«, brüllte ich, rannte ihr nach und packte sie an der Schulter. Sie streifte meine Hand in seltsamer Ruhe wieder ab.
»Leg es zurück«, sagte sie.
»Sieh es dir wenigstens einmal an!«, schrie ich wieder.
Sie senkte den Blick, wich mir aus.
»Leg es zurück. Es gehört weder dir noch mir, sondern Vater.«
»Aber da ist eine Widmung!«
Ich öffnete das Buch wieder, blätterte zu der Seite vor, wo in Handschrift ihr Name eingetragen war. In Liebe, stand darunter.
»Ich werde es mir nicht ansehen. Leg es zurück. Es gehört nicht uns, sondern Vater«, wiederholte sie.
»Aber da steht doch, dass es dir gehört«, sagte ich. »Da, schau mal.«
Sie begann zu zittern.
Da dachte ich, dass ich sie bereits besiegt hatte, ohne in den Ring zu steigen: Sie konnte offensichtlich nicht lesen. Ich hatte sie in der Hand, wie zuvor vermutlich schon mein Vater. Dachte ich. Damals.
*
Die Vorstellung, dass ein Mann sich ein eigenes Wesen schaffen konnte, eines, das ihm aufs Wort gehorchte, gespeist nur durch Magie, ein mächtiger, ergebener Verbündeter, war bezaubernd.
Wie gerne wäre ich dieser gelehrte Mann gewesen, dessen Hand die Zeichen in die leere Golemstirn geritzt hatte, um ihn so zum Leben zu erwecken, wie eine Frau es niemals tun könnte …
Denn während eine Frau das Häufchen Elend, das aus ihrem Leib in die Welt gerutscht war, ohne dass sie wirklich begriff, wie es zustande kommen konnte, eine ermüdend lange Zeit hinweg pflegen und hegen und wachsen lassen musste, bevor es ihr irgendeinen Nutzen erbrachte, während eine Frau durch das von ihr geschaffene Wesen gebunden war, wurde in diesem Fall nur der Golem an seinen Meister gebunden und niemals umgekehrt. Er war ab seiner ersten Bewegung bereit, sich als nützlich zu erweisen und zu dienen. Ich wollte kein Kind haben, dachte ich mir damals, ich wollte einen Golem. Bekommen hatte ich einen belastenden, nichtsnutzigen Sohn.
*
Warum gerade dieses Buch, fragte ich mich später, als ich es wieder und wieder gelesen hatte, wieso dieses Buch, das ein Monster beschreibt, einen Homunkulus, der so gar nichts mit Familie und Liebe und Frauen zu tun hat. Was wollte er ihr damit vermitteln, wozu? Ob er dieses Buch abends auspackte, im Schein der Petroleumlampe, die immer noch auf ihrem Nachtkästchen stand, daraus vorlas, bevor sie in ruhigen Schlaf fiel, bevor sich seine Hände über ihren sehnigen Körper bewegten, das makellos weiße Nachthemd hochschoben, zwischen ihre dünnen Beine drangen? Ob diese hellen dünnen Beine, deren Knie stark hervortraten, auseinanderfielen wie verblühende Blütenblätter bei seiner Berührung? Oder ob sie sich bogensehnig noch mehr verspannten, leicht angewinkelt an den Unterleib hochgezogen, und das Eindringen seiner vermutlich nach Pfeifenrauch stinkenden Finger schwerfiel, weil sie trocken blieb wie ihre Kehle, und er wohl fluchte, wie es viele am Anfang bei mir getan hatten, fluchte und auf seine Hände spuckte, um sie doch
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