Die Erfindung des Abschieds /
beobachtete zwei Männer, die auf der Promenade stehen geblieben waren und in seine Richtung sahen. Vielleicht waren es Polizisten in Zivil, vielleicht hatten sie schon herausgefunden, wo er sich versteckte.
In der Paracelsus-Klinik, in der es eine Spezialabteilung für Parkinsonpatienten gab, sprach man leise miteinander, und es roch nicht wie in den meisten Krankenhäusern nach Desinfektionsmitteln und Medikamenten, sondern nach Pflanzen und Duftölen. Die Schwestern waren freundlich, und sogar die Kranken machten den Eindruck, als wären sie gerne hier.
Während Jens in der Eingangshalle wartete, weil auch die nettesten Krankenhäuser ihn deprimierten, fragte sich Tabor Süden zum Chefarzt durch.
»Süden?«, sagte Dr. Eberhard Arend und musterte die Visitenkarte, Südens letztes Polizeirelikt. »Ich hatte mal einen Kollegen, der hieß Norden, Professor Norden, ein Ophthalmologe, ein Spezialist für Lasertechnik.« Er gab ihm die Karte zurück. »Und Sie wollen wissen, was mit dem Jungen ist, der aus der Nordsee gefischt wurde.«
»Ja.«
»Der Junge liegt im Koma. Schwer zu sagen, ob er durchkommt.«
»Wissen Sie seinen Namen, Herr Doktor?«
Das Büro, in dem sie sich befanden, war klein, aber geschmackvoll eingerichtet, auf dem Parkettboden standen zwei große Blumenvasen aus Terrakotta, es gab Bücherregale aus unbehandeltem Holz, zwei gediegene Ledersessel, einen Schreibtisch mit einer Glasplatte, einen roten Kleiderständer.
»Nein«, sagte Dr. Arend. »Ich habe die Männer gefragt, die ihn gebracht haben, sie kennen ihn auch nicht. Angeblich war er in Begleitung eines Mannes.«
»Ich möchte den Jungen sehen.«
»Ich hab noch nicht genau verstanden, was Sie hier auf der Insel ermitteln, es geht um einen Vermisstenfall?« Dr. Arend machte eine Schublade auf und nahm eine Tüte Bonbons heraus. »Möchten Sie eins?«
»Ja«, sagte Süden. Er hatte einen trockenen Mund und Durst wie ein Kamel.
»Die sind absolut ungesund«, sagte Dr. Arend und hielt ihm die Bonbons hin. »Der blanke Zucker, aber ich finde sie unwiderstehlich. Ich leg sie in die Schublade, damit ich sie nicht dauernd sehe, aber es hilft nichts.«
Sie schmatzten beide, und Süden verzog das Gesicht.
»Und, hab ich zu viel versprochen?«, fragte Dr. Arend.
»Schmecken wie Marmelade«, sagte Süden. Sein Durst verdreifachte sich. »Wir suchen einen neunjährigen Jungen aus München, und ich bin überzeugt davon, dass er auf dem Weg nach Helgoland ist, das heißt, ich glaub, er ist bereits da.«
»Ungewöhnliches Reiseziel«, sagte der Arzt und hielt die Tür auf. Sie gingen den Flur entlang. »Hat er Verwandte hier auf der Insel?«
»Nein.«
»Neun Jahre. Mein Gott. Ich frage mich, wie das passiert ist. Spaziergänger behaupten – das haben die Fischer erzählt –, dass er über die Absperrung geklettert und dann ins Meer gesprungen ist. Das halte ich für unwahrscheinlich. Er hat zwar Abschürfungen, ein paar Quetschungen und eine Risswunde am Auge, aber …«
In einem hellen warmen Raum stand ein weißes Bett, in dem ein kleiner Körper lag.
»Wenn er tatsächlich von da oben runtergesprungen wäre, dann sähe er anders aus. Ihre Kollegen aus Pinneberg sind gerade dabei, seine Identität festzustellen und vor allem, den Mann zu finden, der bei ihm war. Sind Sie mit der Fähre gekommen, Herr Süden?«
»Mit … dem Flugzeug.«
»Haben Sie die Robbenbänke gesehen?«
»Natürlich.«
Dr. Arend trat einen Schritt zur Seite, und Süden beugte sich über das Bett.
Wer immer es war: Mit Raphael Vogel hatte der Junge keine Ähnlichkeit.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte Jens, als sie vom Krankenhaus zur Uferpromenade am Binnenhafen zurückgingen, wo sich die bunt bemalten Hummerbuden Wand an Wand reihten; einige wurden als Ateliers genutzt.
»Ich werde über die Insel streifen und meine Augen offen halten«, sagte Süden und pulte mit der Zunge Bonbonreste aus den Zahnzwischenräumen.
»Ganz allein?«
»Ja.«
»Soll ich Ihnen dabei helfen, Ausschau zu halten? Ich kenn mich gut aus hier.«
»Müssen Sie nicht in die Anstalt zurück, in Ihr Institut?«
»Eigentlich schon. Aber vier Augen sehen mehr als zwei, hab ich bei Winnetou gelernt«, sagte Jens und nickte einem alten Fischer zu, der ihnen entgegenkam.
»Zwei Augen sind genug«, sagte Süden.
Auf dem Lung Wai, dem Weg von den Landungsbrücken zum Aufzug, der die gehfaulen Touristen in ein paar Sekunden ins Oberland brachte, verabschiedeten sie
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