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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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standen dicht gedrängt die Zuschauer und verfolgten mit Ferngläsern das Geschehen auf dem Meer.
    »Wir müssen umkehren«, sagte Jens, »wenn meine Kollegen uns sehen, gibt’s Ärger. Wir kommen da vorn sowieso nicht weiter, da hört der Weg auf.«
    »Wieso haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«
    »Sie haben gesagt, Sie wollen da runter, und ich hab gesagt, das ist verboten, und da haben Sie gesagt, Sie sind Polizist, und Sie müssen da runter, und da hab ich gesagt …«
    »Ich bin zum ersten Mal auf dieser Insel.«
    »Und? Gefällt’s Ihnen?«
    »Ich bin gerade erst angekommen.«
    »Um die Uhrzeit? Ach so, Sie sind mit dem Flugzeug gekommen, das ist sowieso viel schöner als mit dem Schiff. Haben Sie die Robbenbänke gesehen?«
    »Natürlich«, sagte Süden.
    »Wo wohnen Sie eigentlich?«
    »Im
Haus Schlüter
«, sagte Süden und fügte hinzu: »Im Oberland. Ich hab einfach irgendwo geklingelt.« Er dachte an die Geschichte, die ihm Jens gerade erzählt hatte, an das Alter der Insel und an die versteinerten Tiere, die man hier finden konnte und die aus einer Zeit stammten, die unvorstellbar weit zurück lag. Und dann musste er auf einmal an seinen Vater denken, der als verschollen galt, irgendwo in Amerika, er wusste es nicht, niemand wusste es.
    Und dann, als er den sanften Flug einer Möwe verfolgte, die hoch über ihm dahinzog, sah er das Bild seiner Mutter vor sich, jenes Bild, das er auf dem Holzkreuz ihres Grabes befestigt hatte an dem Tag, an dem sie beerdigt worden war; es war ein Farbfoto, auf dem sie lachte, sie hatte ein breites Gesicht und einen großen Mund, mit dem sie ihn als Kind immer halb verschlungen hatte, wenn sie ihn vor dem Einschlafen küsste; jetzt schmeckte er das Salz auf den Lippen wie ihren Kuss, und er sah sie da liegen, klein und weiß im Krankenhausbett, und er hörte sich leise singen wie ein alter Kasache, der einen Toten verabschiedet; so hatte er neben ihr gekniet und heiser gesungen, und es hatte geklungen wie das Schreien einer fernen Möwe. Und als er jetzt aufblickte, kam es ihm vor, als sei seine Stimme ein weißes Echo am Himmel über Helgoland.
    »Sehen Sie!«, rief Jens und zeigte hinaus aufs Wasser. »Sieht aus, als hätten sie da draußen was entdeckt.«
     
    In der Kirche wurde es plötzlich still. Sogar die Journalisten, die beim Eingang kleine Gruppen bildeten, hörten auf zu tuscheln und schauten gebannt nach vorn. Kirsten Vogel erhob sich aus der Bank, in der sie neben ihrem Freund Garbo gesessen hatte, und ging langsam zum Altar. Sie hielt die Hände wie eine Madonna gefaltet unter dem Kinn, und ihre Augen waren starr auf die Kerze gerichtet, die auf einem hohen, schmalen gusseisernen Ständer seitlich des Altars brannte. Garbo kam schlurfend hinter ihr her. Als sie stehen blieb, verharrte auch er ruckartig mitten im Schritt und traute sich nicht weiterzugehen. Kirsten bekreuzigte sich und kniete sich auf den Marmorboden direkt vor die Stufen.
    »Lieber Gott, mach, dass es ihm gut geht, wo immer er gerade sein mag. Mach, dass er sich nicht fürchtet und nicht auf mich böse ist, weil ich ihm nicht geholfen hab. Ich bitte Dich um Vergebung, und ich hoffe … hoffe …«
    Sie wusste nicht weiter, sie kniff die Augen zusammen und dachte angestrengt nach. Aber die Worte waren wie aus ihr herausgefallen, sie fand sie nicht wieder.
    Langsam wandte sie den Kopf. Garbo löste sich aus seiner Verkrampfung und ging zu ihr, und als er ihren Blick sah, drehte er sich um, schaute unsicher und etwas verlegen zu den Reportern und kniete dann ebenfalls nieder.
    »Kopf hoch, Vögelchen!«, sagte er und hatte das Gefühl, dass seine Knie fürs Knien nicht geschaffen waren; deswegen ging er auch nie zu einem Gottesdienst.
    Sie wollte etwas zu ihm sagen und öffnete den Mund, doch anstatt zu sprechen, fing sie an zu wimmern, zu stöhnen wie ein Baby, lauter und lauter, bis ihr Flehen durch das Kirchenschiff hallte und im Pulk der Journalisten wieder Unruhe entstand.
    Auf den Knien rutschte Kirsten über die Stufen auf den großen Altar zu, dessen Bild den heiligen Michael zeigte, wie er Luzifer in die Hölle stürzt. Ihre Stimme wurde schrill und hoch, sie versuchte immer noch, Worte zu finden, und dann glitt sie aus und fiel zur Seite, rappelte sich hoch, faltete wieder fest die Hände und bohrte die Fingernägel in die Haut. Tränen liefen ihr über die blassen Wangen, und sie hörte die Fotoapparate nicht, die hinter ihr klickten.
    Vor dem mächtigen Sockel des Altars

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