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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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viel steht fest! Seehunde sehen die See, ganz klar. Bellen Seehunde? Wahrscheinlich, sonst würden sie nicht Seehunde heißen. Gibt’s auch Seekatzen? Beißen bellende Seehunde oder beißen bellende Seehunde nicht? Von hier oben war nichts zu hören, hier hörte man nur den Motor und die Propeller. Oder waren die Propeller in seinem Kopf? Warum hatte er solche Angst vorm Fliegen? Hatte er überhaupt Angst? Seine Hände waren schweißnass. Er fühlte sich schlecht als fliegende Sardine. Die Maschine war ausgebucht, natürlich war sie ausgebucht, dies war sein erster Flug als Erwachsener, noch dazu mit einer ausgebuchten Propellermaschine von Cuxhaven-Nordholz nach Helgoland. Wenn er nicht Polizist geworden wäre, würde er jetzt nicht hier sitzen. Seehunde. Essen Seehunde Knochen? Grätenchappi? Lauter Fragen, die ihm im Kopf herumrumorten. Was hat der Kapitän gerade gesagt? Was?
    Die weiße Maschine landete auf der Düne. Die Fluggäste kletterten ins Freie, und das Erste, was Tabor Süden wahrnahm, war die salzige Luft. Er saugte sie ein, sie kam ihm paradiesisch vor, nachdem er soeben der Hölle entronnen war.
    »Kommen Sie mit!«, sagte der Mann, der neben ihm gesessen hatte. »Die Fähre bringt uns zur Insel rüber.«
    Süden nahm seine Reisetasche und betrachtete das Flugzeug. Dann breitete er die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken, sah die feisten grauweißen Wolken am Himmel und stieß einen lauten Schrei aus. Erschrocken drehten sich die Passagiere nach ihm um.
    Das kleine Fährboot schaukelte heftig über die Wellen und legte nach fünf Minuten an der Helgoländer Binnenreede an.
    In dem Moment, als Süden ausstieg, fragte einer der jungen Fischer, die für das Ausbooten zuständig waren, einen Kollegen: »Haben sie den Jungen schon gefunden?«
    »Nein«, sagte der andere, »bei dem Wind hat’s den wahrscheinlich rausgespült. Hoffentlich finden sie die Leiche überhaupt.«

17
    Gottesdienst ohne Gott
    D en steinigen Weg an der Westküste zu gehen, unterhalb des zerklüfteten roten Felsens, war verboten, es sei denn unter Aufsicht von Ortskundigen; sie veranstalteten im Sommer Führungen, bei denen die Teilnehmer Schutzhelme tragen mussten.
    Tabor Süden und Jens, sein achtundzwanzigjähriger Begleiter, ein Meeresforscher, dem er auf dem Weg zur Klippe begegnet war, trugen keine Helme. Sie gingen die Mauer entlang, die sich über das gesamte Ufer erstreckte, und blickten, die Hände an der Stirn, aufs Meer hinaus, wo die Suchmannschaften ihre Scheinwerfer über das Wasser kreisen ließen.
    »Das ist eine Schutzmauer«, rief Jens gegen den Wind, »die ist dazu da, damit das Salzwasser das Felsmassiv nicht noch mehr aushöhlt. Das ist Buntsandstein, siebzig Millionen Jahre alt.«
    Jens arbeitete in der Biologischen Anstalt, die es seit hundert Jahren auf Helgoland gab. Wenn er mal in Schwung kam, war er nicht mehr zu bremsen. »Das Trias, sagt Ihnen das was? Also, die Triasformation, die hat ungefähr fünfundvierzig Millionen Jahre gedauert, und in der Zeit ist auch das Urhelgoland entstanden, die Zeit vergeht, was? Dieses Urland hier, das war eine siebenhundert Meter dicke Schicht aus Ton, Mergel und Sand. Und als sich dann im Süden die Alpen herausgebildet haben, brachen im Norden die Erdkrusten ab und haben ein Gebirge geformt, das in den darauf folgenden Jahrmillionen immer mehr zusammengeschrumpft ist, bis es die Größe der heutigen Insel erreicht hatte. Dagegen sind wir mit unseren paar Jahren, die wir auf der Erde rumkrebsen, echt nur ein Möwenfurz. Übrigens sagt der Mythos, dass Helgoland Teil eines riesigen Kontinents war, zu dem auch Großbritannien gehört hat und in dessen unendlichen Tundren Saurier gelebt haben sollen, Saurier! Angeblich wurden hier auf der Insel sogar versteinerte Reste von ihnen gefunden. Ich war nicht dabei. Außerdem gibt es Leute, die behaupten, Helgoland sei der sichtbare Teil von Atlantis, sozusagen die Spitze des Eisbergs, haha.«
    Eines der Boote änderte seine Richtung, aber Süden konnte nicht erkennen, worauf es zusteuerte.
    »Haben die was entdeckt?«, fragte Jens. Er war ein schlaksiger, munterer Kerl, der eine bunte Pudelmütze trug und die Hände nie aus den Taschen seiner blauen Seemannshose nahm.
    »Ich kann nichts sehen«, sagte Süden. »War der Junge allein da oben?«
    »Ich hab nur gehört, dass noch ein Mann bei ihm war, aber wo der ist, weiß ich auch nicht. Das ist alles ziemlich vage, was die Leute erzählt haben.«
    Auf dem Klippenrandweg

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