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Die Erfindung des Abschieds /

Die Erfindung des Abschieds /

Titel: Die Erfindung des Abschieds / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Fenster, leckte sich die Lippen und stopfte die Pfeife, auf die er das ganze Wochenende leidend verzichtet hatte.
    »Die Mutter …« begann Funkel und roch am Tabak, »… sie sagt, er ist weggelaufen, weil er nicht verstehen konnte, dass sein Vater nicht mehr bei ihnen lebt, und er wollte ihn unbedingt wieder sehen. Er hat dann wohl auch bei ihm übernachtet.«
    »Hat seine Mutter ihm nicht erklärt, was los ist?«, fragte Weber.
    »Sie sagt, sie hat es versucht, aber er wollte es nicht hören. Er hat sich in sein Zimmer eingesperrt, anscheinend hängt er sehr an seinem Vater.« Funkel sog an der Pfeife und blickte zum Schreibtisch: Er hatte die Streichhölzer vergessen. Thon bemerkte den Blick und zog ein silbernes Zippo aus seinem blauen Leinensakko.
    »Danke«, sagte Funkel, und der süße Rauch erfüllte ihn mit Freude.
    Seine Kollegen sahen ihn spöttisch an, er winkte ab und schob das Zippo über den glatten Holztisch. Thon steckte es ein. Er rauchte Zigarillos, aber nur nach dem Mittagessen und kurz vor Dienstschluss.
    »Du hast also nicht viel aus der Frau rausgekriegt«, sagte Thon, »außer dass ihr Junge die Wohnung verlassen hat, ohne zu sagen, wo er hinwollte. Welche Beziehung hatte er zu seinem Großvater?«
    »Eine innige. Das war der Vater seines Vaters, und die Mutter sagt, Raphael war jedes Wochenende bei ihm in Giesing, sie sind dann auf Flohmärkte gegangen oder auf Eisenbahnausstellungen …«
    »Bitte?«, sagte Weber.
    »Der Mann war früher Straßenbahnfahrer – er hatte ein Faible für Schienen …«
    »Aha …«
    »Was denkst du?«, fragte Thon abrupt und sah Weber an.
    Klackklackklack, kam es von nebenan, ein Stakkato, und von draußen hörte man, kaum gedämpft von den dünnen Fenstern, das Hupen der Autos.
    »Eigentlich glaub ich jetzt nicht mehr, dass der Bub zur Beerdigung kommt«, sagte Weber und malte Zacken aufs Papier.
    »Was ist ›eigentlich‹ und was meinst du mit ›glaub ich‹?«, wollte Thon wissen und beugte sich zu Weber hinüber.
    »Der Mann ist tot, und niemand war da, um mit dem Jungen zu sprechen. Er durfte nicht Abschied nehmen, was also soll er auf dem Friedhof? Der Abschied ist vorbei. Auf dem Friedhof sind seine Eltern, die sich nichts zu sagen haben, und ein paar andere Leute, Straßenbahnfahrer, was weiß ich, und sie schweigen sich an oder gehen zusammen ein Bier trinken, und das war’s dann. Und der Junge? Raphael? Was hat er da verloren? Nein, ich hab mich geirrt, er wird nicht kommen. Er wird nicht kommen. Er weiß, dass er da nicht hingehört, er weiß, er kann überhaupt nichts machen, sein Opa ist tot, unter der Erde, und kein Mensch wird ihn da je wieder rausholen. Nein …« Er schüttelte den Kopf und rieb mit den Knöcheln der Hand über sein rechtes Ohr, das noch röter als gewöhnlich war. »Dieser Junge ist weggelaufen, weil die Welt für ihn nicht mehr stimmt. Weil die Erwachsenen ihn enttäuscht und allein gelassen haben. Ich hab keine Ahnung, wo er stecken könnte.«
    »Wir warten mit der Fahndung trotzdem bis nach der Beerdigung«, sagte Funkel. »Vielleicht fährt er mit der Straßenbahn kreuz und quer durch München, und dann haben wir ihn bald.«
    »Und was machen wir dann mit ihm?«, fragte Weber.
    In diesem Moment endete nebenan das Schreibmaschinengeklapper, und zwei Telefone klingelten gleichzeitig. Auf Funkels Apparat blinkte ein grünes Licht.
    »Dann bringen wir ihn schleunigst zu seiner Mutter zurück, was sonst?«, sagte Thon.
    »Ich glaub nicht, dass er mit der Straßenbahn durch die Gegend gondelt«, sagte Weber, »ich glaub das überhaupt nicht.«

2
    Sag ihm, ich versteh ihn nicht
    D ie ersten Strahlen der Morgensonne verschwanden hinter den Wolken, die grau und fett über dem Ostfriedhof hingen. Wie ein üppig bepflanzter Park trennte der Friedhof die Stadtteile Giesing und Haidhausen, an zwei Seiten von Bahngleisen begrenzt, auf denen alle fünfzehn Minuten die Züge vorbeiratterten. Zwischen Ahornbäumen, Buchen, Linden und Birken lagen die Verstorbenen aus allen Teilen der Gesellschaft Seite an Seite: Bäcker, Metzger, Handwerker, Studiendirektoren, Schauspieler, Kommerzienräte, einfache Leute und Großkopferte, Angeber und Unauffällige, Unvergessene und Vergessene. Die Krähen besuchten jedes Grab gleich gern, sofern es dort etwas zu picken gab und keine Marmorplatte das übliche schmale Blumenbeet ersetzte; gemächlich watschelten sie über die Kieswege und flatterten dann, scheinbar schwerfällig, zu ihren

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