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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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Aber diesen Augustabend war alles besonders – das Wasser war besonders dunkel und tief, wir waren besonders sorglos, und die Sonne rollte besonders schnell von uns weg. Wir eilten zur Brücke, bevor es ganz dunkel wurde. Es war eine wacklige Holzbrücke, wir kletterten auf das Geländer und stürzten uns ins dunkle, vom Sand gelbe Wasser. Das wiederholte sich endlos. Erst als die Dunkelheit unter der Brücke violett und dicht wurde wie Tinte, hörten wir auf und zogen uns die Kleider über die nassen Körper. Und als alle fertig waren, nur noch das Wasser aus den Haaren schüttelten und im Gehen die Turnschuhe anzogen, sagte Gia, der erst seit einem Jahr in unsere Klasse ging, Moment, wartet, nur noch einmal, dann gehen wir. Niemand hatte was dagegen, Gia streifte das T-Shirt wieder ab, das er sich schon über die nassen Schultern gezogen hatte, kletterte auf das Geländer und sprang – in die gelbviolette Leere.
    Zunächst riefen wir ihn, glaubten, er habe sich bloß irgendwo versteckt. Dann kriegten wir Panik und sprangen ihm nach, tauchten im Dunkel und bemühten uns, im schweren Wasser wenigstens irgendetwas zu erkennen. Es war aber nicht möglich, und während einer von uns in die Stadt lief, Hilfe holen, standen wir am Ufer mit Taschenlampen in der Hand, die in gleißenden Blitzen aufs Wasser schlugen. Der Fluss floss an uns vorbei, die Wellen verschwanden in der Finsternis. Und irgendwo dort, unter Wasser, schwamm Gia, und sein Körper drehte sich nach der Strömung wie Algen. Wir wollten nicht an das Schlimmste glauben, wir weigerten uns hartnäckig zu glauben, was passiert war, spähten in die Reflexionen auf dem Wasser und wiederholten leise, für uns: Er ist doch nicht tot? Es ist doch nicht möglich, dass er tot ist?

10
    – Hast du ihn lange gekannt, Harry?
    Das Gras im Krankenhauspark wuchs üppig und verbarg Äpfel, Kippen und gebrauchte Spritzen. Wachsame und misstrauische Katzen schlichen umher, manchmal erstarrten sie und blickten mit ihren grünen Augen gegen die Sonne. Das Fenster eines Krankenzimmers wurde geöffnet, und irgendein kaputter Typ paffte gierig, in Erwartung der Visite, er schnippte die Kippe mit dem Finger weg, als sie ins Zimmer kamen, und die Kippe flog ins gelbe Gras wie ein Satellit. Hier und da wuchsen alte, vom Wind gebeutelte Apfelbäume. Im hinteren Ende des Parks, an der Ziegelmauer des Krankenhauses, stand eine Bank, die jemand von der Straße hereingeschleppt hatte. Hier trafen sich abends die Patienten, rauchten, tranken Wein und erzählten sich Storys aus ihrem Leben. Hier saßen der Priester und ich. Er war gerade beim Arzt gewesen und hatte nach dem Versehrten gefragt, obwohl es da nichts mehr zu fragen gab. Jetzt erstattete er mir kurz Bericht und wartete, was ich sagen würde. Ich hatte nichts zu sagen. Der Versehrte war so plötzlich gestorben, dass ich von ihm immer noch in der Gegenwart sprach. Der Priester korrigierte mich nicht. Und fragte dann:
    – Hast du ihn lange gekannt, Harry?
    – Was heißt schon lange, – überlegte ich. – Seit meiner Kindheit. Er ist älter als ich, es war mehr mein Bruder, der mit ihm befreundet war. Sie haben zusammen in der Mannschaft gespielt. Später spielte ich auch mit.
    – Hat er gut gespielt?
    – Er war der Beste. Verstehst du, Petja, – erklärte ich dem Priester, – ich sage das jetzt nicht, weil er gestorben ist. Er hat wirklich gut gespielt.
    – Und du?
    – Ich war nicht so gut, – gab ich ehrlich zu. – Irgendwas fehlte mir. Vielleicht Schnelligkeit. Vielleicht Wut. Aber den Pokal haben wir zusammen geholt.
    – Wann war das?
    – 1992.  Davor hatten sie ihn schon einmal gewonnen, ohne mich. Für sie war das also nicht das erste Mal. Aber ich war unheimlich stolz. Stell dir mal vor – den Pokal gewinnen!
    – Und ich, – antwortete der Priester, – hab’ 92 in der Klapse gesessen.
    – Wie – in der Klapse gesessen?
    – Na, wie sitzt man wohl in der Klapse? Lange und unruhig. Ich hatte Drogenprobleme. Da hat meine Schwester mich verpfiffen, sie glaubte, die würden mich heilen.
    – Und? Haben sie?
    – Nein, haben sie nicht. Ich hab mich selbst geheilt. War aber ganz schön anstrengend. Ich bin sogar an eine Sekte geraten, stell dir vor.
    – Und wie hast du dich geheilt? Mit Gebeten?
    – Was für Gebeten denn? – lachte der Priester. – Chemie, Harry, Chemie. In diesem Leben werden Drogen nur durch andere Drogen ersetzt. Kurz gesagt, ich weiß selber nicht, wie ich das geschafft habe. Aber ich

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