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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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er abhaut, – erklärte Kotscha.
    – Und wen interessiert das?
    – Keine Ahnung, Harry, – wand sich Kotschas Stimme, – keine Ahnung.
    – Kotscha, was liegt an?
    – Harry, du kennst mich doch, – zischelte Kotscha, – ins Business hab ich mich nie eingemischt. Und er hat mir nichts erzählt. Ist einfach auf und davon. Vielleicht kommst du her und klärst alles an Ort und Stelle? Ich pack das nicht allein.
    – Was soll ich denn klären?
    – Weiß nicht, vielleicht hat er dir ja was gesagt.
    – Kotscha, ich hab ihn seit einem halben Jahr nicht gesehen.
    – Also, ich weiß nicht – Kotscha steckte jetzt endgültig in der Sackgasse. – Harry, Kumpel, komm, allein pack ich das hier nicht, versteh mich doch.
    – Kotscha, laber nicht rum, – sagte ich schließlich. – Sag einfach, was Sache ist.
    – Alles okay, Harry. – Kotscha hustete, – alles okey-dokey. Du weißt Bescheid, schau selbst. Ich muss jetzt, hab Kundschaft. Bis denn, Kumpel, bis denn. – Kotscha legte auf.
    Kundschaft, dachte ich. Um fünf Uhr früh.
    *
    Wir hatten uns in zwei Zimmern einer alten, verlassenen Komunalka eingemietet, im Zentrum, in einem stillen, mit Linden bewachsenen Hof. Lolik wohnte im Durchgangszimmer, näher am Flur, und ich dahinter, mit Balkon. Die übrigen Zimmer der Komunalka waren fest verschlossen. Niemand wusste, was sich hinter den Türen verbarg. Die Zimmer hatte uns ein alter, störrischer Rentner vermietet, der frühere Inkassobeamte Fjodor Michailowitsch. Ich nannte ihn Dumbolewski. In den Neunzigern wollten er und seine Frau emigrieren, und Fjodor Michailowitsch frisierte seine Dokumente. Doch als er die neuen Papiere in Händen hielt, überlegte er es sich plötzlich anders und beschloss, dies sei der richtige Zeitpunkt, ein neues Leben zu beginnen. Also emigrierte seine Frau allein, und er blieb in Charkiw, angeblich um die Wohnung zu hüten. Infiziert von der Freiheit, vermietete Fjodor Michailowitsch uns die Zimmer und hauste selbst in irgendwelchen konspirativen Wohnungen. Küche, Flur und sogar das Bad dieser baufälligen Unterkunft waren vollgestopft mit Vorkriegsmöbeln, abgegriffenen Büchern und Stößen der Zeitschrift Ogonjok . Auf Tischen, Stühlen und auf dem nackten Fußboden türmten sich Geschirr und verschiedenfarbige Altkleider, an denen Fjodor Michailowitsch sehr hing und die wegzuwerfen er uns nicht erlaubte. Wir warfen nichts weg, und so gesellte sich zu dem fremden Plunder auch noch unser eigener. Schränke, Regale und die Schubladen des Küchentischs standen voll mit dunklen Flaschen und Einweckgläsern, in denen Öl und Honig glänzten, Essig und Rotwein, in dem wir unsere Kippen löschten. Über den Tisch hüpften Walnüsse und Kupfermünzen, Kronkorken und Knöpfe von Armeemänteln, Fjodor Michailowitschs alte Krawatten hingen an der Deckenlampe. Wir hatten Verständnis für unseren Vermieter und seine Piratenschätze, Leninfiguren aus Porzellan, schwere Gabeln aus falschem Silber, schmutzige Vorhänge, durch die buttergelb die Sonne brach und Staub und Luft aufwirbelte. Abends in der Küche lasen wir die Inschriften an den Wänden, die Telefonnummern, Adressen, Busrouten, die Fjodor Michailowitsch mit Filzstift direkt auf die Tapete gemalt hatte, wir betrachteten die an die Wand gepinnten Kalenderblätter und Porträts unbekannter Verwandter. Die Verwandten sahen streng und feierlich aus, im Unterschied zu Fjodor Michailowitsch selbst, der ab und zu in seinem warmen Nest auftauchte, in quietschenden Sandalen und geckenhaftem Käppi, er sammelte unsere leeren Flaschen ein, nahm sein Geld in Empfang und verschwand im Hof zwischen den Linden. Es war Mai, das warme Wetter hielt sich, und im Hof wucherte das Gras. Manchmal stahlen sich nachts Paare von der Straße herein und liebten sich auf der mit alten Flickenteppichen bedeckten Bank. Manchmal traten gegen Morgen die Sicherheitsleute heraus, setzten sich und drehten Joints, lang wie die Maimorgendämmerung. Am Tag kamen die Straßenköter, erschnupperten die Spuren der Liebe und rannten erregt zurück – auf die Hauptstraße der Stadt. Die Sonne ging direkt über unserem Haus auf.
    *
    Als ich in die Küche kam, drückte sich Lolik schon beim Kühlschrank herum. Er hatte seinen Anzug an – dunkler Blazer, graue Krawatte und unförmige Hosen, die an ihm herunterhingen wie eine Fahne bei Windstille. Ich öffnete den Kühlschrank und musterte die leeren Fächer.
    – Hi, – sagte ich und ließ mich auf einen Stuhl fallen.

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