Die Erfindung des Jazz im Donbass
Nervös setzte Lolik sich mir gegenüber, die Milchtüte fest in der Hand. – Weißt du was, lass uns zu meinem Bruder fahren.
– Wozu? – fragte er verständnislos.
– Einfach so. Mal nach dem Rechten sehen.
– Und was ist mit deinem Bruder, irgendwelche Probleme?
– Quatsch, alles okay. Er ist in Amsterdam.
– Du willst ihn in Amsterdam besuchen?
– Nicht in Amsterdam. Daheim. Vielleicht am Wochenende?
– Weiß nicht, – Lolik zögerte, – am Wochenende wollte ich das Auto in die Werkstatt bringen.
– Mein Bruder arbeitet doch in einer Werkstatt. Fahren wir!
– Weiß nicht, – Lolik war noch nicht überzeugt. – Ruf ihn doch lieber an. – Und fügte, als alles ausgetrunken war, hinzu: – Los, wir sind spät dran.
*
Im Laufe des Tages versuchte ich mehrmals, meinen Bruder anzurufen. Niemand nahm ab. Am Nachmittag wählte ich Kotschas Nummer. Genauso erfolglos. Komisch, dachte ich, mein Bruder nimmt vielleicht einfach nicht ab, wegen Roaming. Kotscha aber sollte bei der Arbeit sein. Ich wählte nochmal, wieder vergeblich. Abends rief ich unsere Eltern an. Mutter nahm ab. – Hallo, – sagte ich, – hast du mal wieder was von Juri gehört? – Nein, – antwortete sie, wieso? – Nur so, – antwortete ich und wechselte das Thema.
*
Am nächsten Morgen im Büro sprach ich wieder mit Lolik.
– Was ist, – sagte ich, – fahren wir?
– Ach was, – nölte Lolik, – hör auf, das Auto ist alt, das geht noch kaputt auf der Strecke.
– Lolik, – bedrängte ich ihn, – mein Bruder wird dein Auto generalüberholen. Komm, ich kann doch schlecht den Bummelzug nehmen.
– Und die Arbeit?
– Mach dich locker, morgen ist Samstag.
– Weiß nicht, – sagte Lolik wieder, lass uns mit Borja reden. Wenn der nichts dagegen hat . . .
– Gut, reden wir, – sagte ich und zog ihn ins andere Büro.
Borja und Ljoscha – Lolik und Bolik – waren Cousins. Ich kannte sie von der Uni, wir hatten zusammen Geschichte studiert. Sie hatten nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander: Borja war ganz Funktionärssöhnchen, schlank und frisiert, trug Kontaktlinsen, ich glaube sogar, dass er sich die Nägel manikürte. Ljoscha war grobschlächtig und irgendwie zurückgeblieben. Er trug billige Bürokleidung, ging selten zum Friseur und hatte eine Brille mit Metallgestell auf der Nase, weil er für Kontaktlinsen zu geizig war. Borja wirkte gepflegter, Ljoscha zuverlässiger. Borja war ein halbes Jahr älter und fühlte sich für seinen Cousin verantwortlich. Eine Art Bruderkomplex. Er stammte aus einer angesehenen Familie, sein Vater hatte beim Komsomol gearbeitet, dann in irgendeiner Partei Karriere gemacht, war Leiter der Kreisverwaltung, später bei der Opposition. Seit ein paar Jahren hatte er einen Posten beim Gouverneur. Ljoscha hingegen entstammte einer einfachen Familie. Seine Mutter war Lehrerin, sein Vater wurstelte sich irgendwo in Russland durch, schon seit den Achtzigern. Sie wohnten in einem kleinen Ort in der Nähe von Charkiw, und so war Lolik eben der arme Verwandte, wofür ihn, wie er glaubte, alle liebten. Nach der Uni trat Borja gleich ins Geschäft seines Vaters ein, während Lolik und ich versuchten, selbst auf die Beine zu kommen. Wir arbeiteten in einer Werbeagentur, bei einem Anzeigenblättchen, in der Pressestelle des Nationalistenkongresses und betrieben sogar unser eigenes Wettbüro, das im zweiten Monat seiner Existenz pleiteging. Vor einigen Jahren begann Borja sich wegen unseres Herumkrebsens Gedanken zu machen, er erinnerte sich an unsere sorglose studentische Jugend und bot uns Arbeit bei sich, in der Verwaltung, an. Sein Vater hatte einige Jugendorganisationen auf seinen Namen registrieren lassen, über die verschiedene Fördergelder hereinkamen und regelmäßige kleine Summen gewaschen wurden.
Unsere Arbeit war schräg und stets unvorhersehbar. Wir redigierten Reden, leiteten Seminare für junge Führungskräfte, führten Wahlbeobachterschulungen durch, entwarfen Programme für neue politische Parteien, hackten Holz auf der Datscha von Boliks Vater, traten in Talkshows auf, wo wir die demokratische Wahl verteidigten, und wuschen, wuschen, wuschen Zaster, der durch unsere Bücher lief. Auf meiner Visitenkarte stand »Unabhängiger Experte«. Nach einem Jahr kaufte ich mir einen supergeilen PC und Lolik sich einen havarierten VW . Wir mieteten uns gemeinsam die Wohnung. Borja kam oft zu Besuch, saß in meinem Zimmer auf dem Fußboden und rief die Nutten an.
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