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Die Ernte

Die Ernte

Titel: Die Ernte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Hempel
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zwölfhundert sind – seit einem Herzinfarkt im Frühling.
    »Ehrlich?«, fragte ich Mrs. Wynn. »Vier Sprachen?«
    »Ach,
Gott
, nein«, sagte sie. »Ich übertreibe, damit sie mich schneller kennenlernen.«
    Um dieses Ziel noch schneller zu erzielen, holte Mrs. Wynn Polaroidaufnahmen von sich heraus, die sie über den letzten Monat jede Woche in der Klinik gemacht hatte. »Wenn man sein Wunschgewicht erreicht, kann man zurückschauen und weiß, wie gut man nicht ausgesehen hat«, erklärte sie.
    Ich fragte Mrs. Wynn, warum sie zu viel gegessen hatte, und sie winkte ab. »Frage fünf Psychiater und du bekommst sechs Meinungen«, sagte sie.
    Manchmal ruft Mrs. Wynn an, wenn ich zu Hause bin und nicht rauche. Sie ruft mich an, anstatt zu essen, so wie andere Leute jemanden anrufen, anstatt einen zu trinken. Für mich sind diese Anrufe wie Ferien, die man als Busfahrer einer Reisegruppe verbringt. Wir haben Grillen vs. Backen abgedeckt, Sorbit vs. Aspartam, den Stellenwert von Ballaststoffen und warum niemand die Firma Sara Lee 1 nicht mag.
    Mrs. Wynn erzählt mir, dass sie lange Zeit geglaubt hatte, dass Essen, das man draußen isst, keinen Kalorienwert hat. Sie sagt, dass das so großartig an Barbecues und Picknicks gewesen sei. Sie sagt, dass sie sich jetzt, da sie es besser wisse, frage, wie sie auf diese Idee gekommen sei. So wie ich, als ich Klebeband um die Filter meiner Carltons wickelte, um den giftigen Rauch darin einzusperren, und so tat, als ob ich so weniger Teer einatmen würde.
    Mrs. Wynn ist eine Freundin in der Not. Sie fragt nie, wie es mit dem Nichtrauchen klappt. Es ist eben keine Erfahrung für Vorher-Nachher-Fotos.
    Als sie ihr Wunschgewicht erreicht hat, schickt Mrs. Wynn mir eine Grußkarte mit einem Aufdruck im Stil einer Handschrift. Dort steht: »Jeder Tag bringt seine Geschenke. Löse ihre Schleifen und packe sie aus!« Darin ist eine Mitteilung in Mrs. Wynns Handschrift; sie hat meinen Namen auf die Gästeliste des Club Volare gesetzt.
    Nachdem die ersten drei Tage endlich vorbei sind, schneide ich eine Anzeige aus einer Kochzeitschrift aus. Zweitausend Dollar und ein sechswöchiger Kurs verwandeln einen in einen Sushikoch. Es macht Spaß, es ist künstlerisch, es – sind zweitausend Dollar.
    Ich werfe die Anzeige weg und denke an diese Redensart, die die Leute zu sagen pflegen, »Das Leben ist hart – und endet tödlich«. Um die Wahrheit zu sagen, das trifft es überhaupt nicht. Da sieht man, was
sie
so wissen. Das Leben ist hart – das haben sie begriffen. Aber was ist mit diesen ersten drei Tagen, die die Schlimmsten sein sollen? Da irren sie sich. Es ist dein Leben – es ist der Rest deines
Lebens
, der am Schlimmsten ist.

UND ICH LEBE HIER
    »Etwas etwas etwas nimmer / Liebe für eine Stunde ist Liebe für immer.«
    Wenn das stimmt, dachte ich, sind wir im Geschäft.
    Ich zeigte Jean die Widmung, dort im Antiquariat, und sie sagte: »Vielleicht hätten wir Jim heiraten sollen.«
    Jean hatte fünf Freunde, die alle Jim hießen. Sind nicht zwei von den Jims beste Freunde?, fragte ich. Nein, sagte sie, das ist eine ganz neue Fuhre Jims. Ist nicht einer von den Jims Wissenschaftler?, fragte ich. Sie sagte, dass ich da wohl an den Jim mit dem Doktortitel dächte.
    Der Jim, von dem sie dachte, dass wir ihn hätten heiraten sollen, war der Jim, dem die Flucht geglückt war.
    Jean sagte, »Hier«, und reichte mir ein neueres gebrauchtes Buch, ein Buch, das, seinerzeit, ein Bestseller gewesen war.
    Sie sagte: »Dieses Buch hat mir den Willen gegeben, zu leben und Spaß zu haben.« Sie sagte: »Ich habe dieses Buch gelesen, bin sofort ausgegangen und habe mich von einem Mann für eine Verabredung ansprechen lassen – von einem Mann, der mich mochte«, sagte sie, »und der nicht einmal eine andere Freundin hatte.«
    Jean und ich sind Brautjungfern. Beim Probedinner gestern Abend sprach die Braut uns im Plural an. Sie sagte: »Ihr seid neunzig in einer geschlossenen Garage gefahren.« Sie sagte: »Wir müssen euch mal raus auf die offene Straße bringen.«
    Mit der »offenen Straße« meinte die Braut nicht das Stretchmark. Das Stretchmark ist eher eine abgeschlossene Garage.
    In einer Motorradkneipe, die den Namen Stretchmark Café trägt, ignorieren die Tische mit den lärmend-muskulösen Männern die Stripperinnen und schielen nach den Dias von Choppern, die auf die Caféwände projiziert werden. Auf einen Stuhl vor der Bühne lüpfen die Mädels ihre T-Shirts, die sie in Laguna bei Big

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