Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
Aber wird Eine unsterbliche Liebe nicht von ihrem Hund erzählt. Das würde meinem Dad nämlich gar nicht gefallen. Zu disneymäßig. Stimmt doch, oder.
Was.
Dass es von ihrem Hund erzählt wird.
Tweed hat Blickkontakt mit der Lenkerin des nahenden Getränkewagens aufgenommen. Sie ist groß, mit langem Hals und dem Wort NAP quer über der Brust.
Keine Ahnung, sagt er.
Interessant, sage ich. Dabei sind Sie doch schon auf Seite 59.
Shirley MacLaine hat mit Sicherheit schon viele Reden an den Betten von Komapatienten gehalten, und sie sind alle aufgewacht. Ja, sie alle haben die Augen geöffnet und Shirley und ihren Hund an ihrem Bett stehen sehen, denn wer würde dazu schon Nein sagen.
Je nun, mein Dad, zum Beispiel. Aber sonst.
Auf dem Cover von Eine unsterbliche Liebe knuddelt Shirley ihren Hund, und sie haben beide genau denselben Gesichtsausdruck.
Wenn ich mich recht erinnere, hatte Zwischenleben ein ganz anderes Cover. Eine deutlich jüngere Shirley am Strand. Im Sweatshirt. Die Hände in die Hüften gestemmt. Damals hatte sie kein knuddeliges Hündchen auf dem Arm.
Kann sein, dass irgendwo im Hintergrund ein Hund herumsprang.
Wir haben das Buch nicht zu Ende gelesen.
Zu einer ordentlichen Rede am Bett eines Komapatienten gehören vermutlich:
• eine Entschuldigung für das verspätete Erscheinen am Krankenbett
• aufmunternde Worte
• eine Frage, die der Komapatient unbedingt beantworten möchte, oder
• eine unwahre Behauptung, die der Komapatient unbedingt richtigstellen möchte
• Händchenhalten
• Tränen
• das Schwelgen in Erinnerungen
• Lachen und Weinen beim Schwelgen in Erinnerungen
• ein langer Blick aus dem Fenster
• ein kurzer Moment, in dem man vergisst, dass der Komapatient im Koma liegt, gefolgt von
• verdutztem Blinzeln und Kopfschütteln
• ein erbauliches Zitat
• ein ausführlicher Bericht über die auf dem Weg ans Krankenbett vollbrachten Heldentaten
• die Lösung eines großen Rätsels
Ich bin als Nächste an der Reihe. Da kommt der Getränkewagen. Ich drücke mich rücklings gegen die Toilettentür. Tweed quetscht sich in eine Sitzreihe. Mann, ist der groß, Mann. Er sieht aus wie Atlas, der die Welt auf seinen Schultern trägt, nur dass er nicht die Welt, sondern ein Gepäckfach schultert. Dank dieser Verrenkungen öffnet sich sein Jackett, und das keltische Amulett schwingt wie ein Pendel hin und her. Ziemlich hypnotisch, dieses Pendel. Es scheint mich auf etwas hinweisen zu wollen. Guck mal, sagt es. Guck mal da. Unter dem Jackett. Eine Waffe.
Eine Waffe.
Ein Gegenstand, der, wie ich mich deutlich zu erinnern glaube, nicht von der Liste der Verbotenen Gegenstände im Handgepäck gestrichen wurde.
Der Getränkewagen rollt vorbei. Tweed tritt in den Mittelgang. Die Toilettentür geht auf. Ich bin an der Reihe. Und muss mich entscheiden. Entwaffne ich den Hijacker. Oder gehe ich pinkeln. Beten Sie, dass Sie so eine Entscheidung niemals treffen müssen.
Ich zeige mit dem Finger über Tweeds Schulter. He, da kommt der Pilot.
Dreht sich der Trottel doch tatsächlich um. Es geht alles sehr schnell. Weil ich blitzschnell reagiere. Der Verschluss des Holsters (ein Druckknopf, weiter nichts!) ist offen.
Es ist erstaunlich leicht, einen Flugzeugentführer zu entwaffnen.
Ich. Mit dem Revolver – so es denn ein Revolver ist – auf die Toilette. Es ist kein Revolver. Es sieht ganz anders aus als die winzige Cluedo-Spielzeugwaffe, die ich auf meinen Dad richtete, wenn er sagte: Zurück in den Wintergarten mit dir.
Tweeds Waffe ist geladen. Mit großem G. Schwer, bedrohlich. Sie hat keine Trommel. Nein, die Kugeln schießen buchstäblich in rascher und endloser Folge aus ihrem dunklen, geheimnisvollen Innern. So etwas nennt man eine Knarre . Eine Kanone .
Plötzlich fühle ich mich wie erschossen. Mir wird heiß und kalt zugleich. Ich lege die Waffe ins Waschbecken. Und stelle mir vor, wie mir in diesem winzigen Metallkabuff die Kugeln um die Ohren pfeifen. Meine Herren.
Jemand hämmert gegen die Tür. Dreimal dürfen Sie raten, wer.
Ich denke an die beiden turtelnden Piloten und möchte am liebsten weinen vor Freude: Sie sind in Sicherheit. Aber sind sie das wirklich. Es könnten schließlich noch weitere Hijacker an Bord sein. Tweed ist garantiert nicht allein. Oder wem galt dieser stählerne Blick. Womöglich muss ich mich auf eine Schießerei einlassen, um die Piloten zu beschützen. Bin ich dazu bereit. Und ob.
Die Sicherheit der
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