Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
Weshalb ich, entgegen der ausdrücklichen Anweisung von North America Pacific, auf ein Nickerchen im Flugzeug grundsätzlich verzichte.
Ich habe mal ein Interview mit einem Mann gesehen, der zwischen zwei Päpsten partout nicht fliegen wollte. Seine Regel Nummer Eins für Flugreisen: Fliege nie ohne einen Papst in Amt und Würden. In der Zeit zwischen dem Tod Johannes Pauls II. und der Wahl Benedikts wollte er sich unter keinen Umständen in einen Flieger setzen. Darum verpasste er das große Begräbnis in Rom, bei dem er gern dabei gewesen wäre, und damit die Gelegenheit, Johannes Pauls braunen Lederslipper mit dessen totem Fuß darin zu berühren. Nicht zu fassen.
Ich bin nicht ganz so abergläubisch. Aber seit meiner Kindheit (als ich oft stundenlang Pilotin spielte und kritische Situationen wie Fahrwerksfehlfunktionen mit Geduld und Spucke meisterte) weiß ich, dass Flugzeuge magische Objekte sind und sie einerseits von dem Glauben an diese Magie und andererseits von der Zuversicht der Passagiere in der Luft gehalten werden. Ein Flugzeug, dessen Passagiere sich entzweien, stürzt todsicher ab. Darum zügle ich meine Wut auf meinen keltischen Sitznachbarn. Am liebsten würde ich beherzt eingreifen und für ihn umblättern, verkneife es mir aber. Denn das könnte mir als Feindseligkeit ausgelegt werden, und die Zuversicht der Passagiere an Bord von Flug 880 wäre dahin.
Komma gefällt mir besser als Koma. Wenn ich da bin, wird mein Dad die Augen öffnen und das Bewusstsein wiedererlangen. Ich stelle mir die Szene bildlich vor. Ich komme herein. Das Krankenzimmer leuchtet wie ein Cockpit. Lauter bunte Lämpchen an medizinischen Geräten. Die ihn am Leben erhalten. Damit er uns erhalten bleibt. Sein Herz piepst. Ich setze mich auf einen Stuhl mit Rollen untendran.
Dad.
Keine Reaktion.
Hm. Ich muss wohl erst mal eine Rede halten. Ja, eine bewegende Rede am Krankenbett. Dann öffnet er bestimmt die Augen.
Ich sollte versuchen, meine Zeit sinnvoll zu nutzen. Und mich am besten gleich an meine Rede machen. Hier im Flugzeug.
Aber statt meine Zeit sinnvoll zu nutzen, mustere ich meinen Sitznachbarn in 14B. Er erinnert mich an einen Verdächtigen aus Cluedo, der betont unschuldig im Billardzimmer herumlungert.
Er ist immer noch auf Seite 59.
Ich glaube, es wird langsam Zeit, ihn zur Auseinandersetzung mit Shirley MacLaine zu zwingen. Verzeihung, darf ich mal. Aber sicher. Er steht auf. Und lässt das Buch ohne Lesezeichen auf den Sitz fallen.
Der nicht lesende Mr. Tweed in 14B wird mir immer suspekter.
Ich stolpere in den Mittelgang. Im Flugzeug werden die Füße größer. Meine jedenfalls.
Immer schön senkrecht halten, sagt Tweed.
Geht schon. Merci.
Ist es nicht ein Wunder, dass ich hier herumtrampeln kann, ohne größeren Schaden anzurichten. Dass ein Flugzeug ein richtiger Saal ist, mit Decke, Fußboden und mehreren Toiletten. In dem wir sitzen wie ein Theaterpublikum. Ein Theaterpublikum mit 37 000 Fuß Nichts unter den Füßen.
Mangels gangbarer Alternativen gehe ich zur Toilette und stelle mich in die Schlange. Ein Getränkewagen ist im Anrollen. Ein Wollknäuel kreuzt meinen Weg. Ich gebe es seiner Besitzerin zurück. Danke. Gern geschehen. Ich wippe auf den Fersen und lasse den Blick über die zerzausten Köpfe schweifen. Ich habe mich schon oft gefragt, warum die ersten Passagiere von Linienflügen sich diese Sitzordnung anstandslos haben gefallen lassen. Warum sie nicht mit der Faust auf den Tisch gehauen und gesagt haben: Wir wollen nicht dasitzen wie im Theater, das sieht völlig bescheuert aus. Andererseits, welche Sitzordnung sähe nicht bescheuert aus.
Jemand stellt sich hinter mir in die Schlange. Tweed fühlt sich anscheinend zu mir hingezogen.
Er nickt, 14A.
14B, sage ich.
Das keltische Amulett ist aus Draht und sieht aus, als ließen sich daraus auch andere keltische Symbole formen. Vielleicht sagen diese Symbole die Zukunft voraus oder spiegeln das wahre Ich des Trägers wider. Im Moment hat es die Form eines knotigen Ovals. Ich sehe in das Gesicht darüber. Ja, ein knotiges Oval. Ich werde aus dieser Miene nicht schlau. Mr. Tweed lächelt vage, aber seine Augen starren finster über meinen Kopf hinweg in die Kabine.
Ich folge seinem Blick. Wen oder was hat er im Visier.
Soso. Eine unsterbliche Liebe , sage ich. Spannende Lektüre.
Er senkt den Blick. Wie bitte.
Als ich ein kleines Mädchen war, hat mein Dad mir Zwischenleben vorgelesen. Eins von Shirleys ersten Büchern.
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