Die erste Nacht - Roman
meinen letzten bewussten Momenten spüre ich Hände, die mich ergreifen und aus meinem Loch heben. Man zieht mich mit, unmöglich, mich aufzurichten, unmöglich, den Kopf zu heben, um die zu sehen, die mich holen. Man stützt mich, wir gehen über einen Weg, ich spüre, dass ich immer wieder das Bewusstsein verliere. Das letzte Bild, an das ich mich erinnere, ist das einer Umfriedungsmauer und eines großen Tors, das sich vor uns öffnet. Du bist vielleicht tot, und ich komme endlich zu dir.
Athen
»Wären Sie nicht beunruhigt, so wären Sie nicht das Risiko eingegangen hierherzukommen. Und sagen Sie mir jetzt nicht, Sie hätten mich zum Essen eingeladen, um den Abend nicht allein verbringen zu müssen. Ich bin sicher, dass der Room-Service im King Georges Hotel besser ist als dieses chinesische Restaurant. Angesichts der Umstände finde ich die Wahl übrigens ziemlich taktlos.«
Ivory musterte Walter eine Weile, nahm ein Stückchen kandierten Ingwer und bot auch seinem Gast davon an.
»Mir geht es wie Ihnen, mir kommt die Zeit lang vor. Das Schlimmste ist, nichts tun zu können.«
»Wissen Sie inzwischen, ob Sir Ashton hinter der Sache steckt oder nicht?«, fragte Walter.
»Ich bin nicht sicher. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er so weit gegangen ist. Keiras Verschwinden hätte ihm genügen müssen. Es sei denn, er hätte von Adrians Reise erfahren und ihm einen Strich durch die Rechnung machen wollen. Es ist ein Wunder, dass er sein Ziel nicht erreicht hat.«
»Viel hätte nicht gefehlt«, knurrte Walter. »Glauben Sie, der Lama hat Ashton, was Keira angeht, informiert? Warum aber hätte er das tun sollen? Warum hätte er ihre Sachen zurückschicken sollen, wenn es nicht sein Anliegen war, Adrian dabei zu helfen, sie zu finden?«
»Nichts beweist, dass der Lama der direkte Absender dieses kleinen Geschenks ist. Es ist durchaus möglich, dass jemand
aus seiner Umgebung den Apparat genommen, unsere Archäologin beim Baden im Fluss fotografiert und ihn dann unbemerkt zurückgelegt hat.«
»Wer soll dieser Jemand sein, und warum hätte er ein solches Wagnis auf sich nehmen sollen?«
»Beispielsweise einer der Mönche, der Zeuge ihres Bades geworden ist und nicht gegen die Regeln verstoßen wollte, denen er sich verschrieben hat.«
»Welche Regeln?«
»Eine davon lautet, nie zu lügen. Aber es kann natürlich auch sein, dass unser Lama, der verpflichtet war, das Geheimnis um Keira zu wahren, einen seiner Schüler dazu angestiftet hat, diese Rolle zu übernehmen.«
»Da kann ich Ihnen nicht mehr folgen.«
»Sie sollten Schach spielen lernen, Walter, wenn man gewinnen will, reicht es nicht aus, einen Zug Vorsprung zu haben, man braucht drei oder vier, denn Antizipieren ist die Voraussetzung für den Sieg. Aber zurück zu unserem Lama, der in dieser heiklen Situation vielleicht zwischen zwei in diesem speziellen Fall unvereinbaren Geboten hin und her gerissen war: zum einen nicht lügen zu dürfen und zum anderen nichts zu tun, was das Leben anderer gefährden könnte. Einmal angenommen, Keiras Sicherheit hinge davon ab, dass sie für tot gehalten wird, dann stünde unser Weiser vor einem Dilemma. Sagt er die Wahrheit, setzt er ihr Leben aufs Spiel und verstößt somit gegen die heiligste Regel seiner Religion. Lügt er hingegen und lässt die Welt in dem Glauben, sie sei tot, verstößt er gegen ein anderes Gebot. Vertrackt, nicht wahr? Beim Schachspiel spricht man von einer ›Pattsituation‹. Mein Freund Vackeers verabscheut sie.«
»Wie haben Ihre Eltern es bloß angestellt, Ihnen eine so komplizierte Denkweise anzuerziehen?«, fragte Walter und nahm ebenfalls einen Ingwerwürfel aus dem Schälchen.
»Ich fürchte, meine Eltern haben nichts damit zu tun, auch wenn ich ihnen dieses Verdienst gerne zusprechen würde - ich habe sie leider nicht gekannt. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, erzähle ich Ihnen ein andermal von meiner Kindheit, denn im Moment geht es nicht um mich.«
»Sie vermuten, angesichts eines solchen Dilemmas hätte unser Lama einen seiner Schüler angestiftet, Adrian die Wahrheit zu enthüllen, während er selbst Keiras Leben schützt, indem er schweigt?«
»Was uns bei dieser Hypothese interessiert, ist nicht der Lama. Ich hoffe, das ist Ihnen nicht entgangen?«
Walter verzog das Gesicht, und sein Ausdruck ließ keinen Zweifel an der Antwort zu. Er konnte Ivorys Überlegungen ganz und gar nicht folgen.
»Sie sind wirklich bedauernswert, mein Lieber«, sagte der alte
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