Die erste Nacht - Roman
Professor und seufzte.
»Ich bin vielleicht bedauernswert, aber immerhin war ich derjenige, der die Besonderheit des Fotos ganz oben auf dem Stapel entdeckt hat.«
»Das will ich Ihnen gerne zugestehen.«
»Ich hätte besser daran getan zu schweigen wie Ihr Lama. Dann säßen wir jetzt nicht hier und würden auf Neuigkeiten von Adrian warten und beten, dass es überhaupt noch welche geben wird.«
»Das Foto lag schließlich ganz oben auf dem Stapel! Man kann nur schwerlich von einem einfachen Zufall ausgehen, es handelt sich sicher um einen Hinweis. Bleibt noch herauszufinden, ob Ashton zur selben Zeit wie wir davon erfahren hat.«
»Oder ein Hinweis, den wir um jeden Preis darin sehen wollten! Hätten wir ihn im Kaffeesatz gelesen, hätten wir ihm dieselbe Bedeutung beigemessen. Sie hätten Keira sogar wieder
zum Leben erweckt, um Adrian zur Fortführung der Forschungsarbeiten zu bringen …«
»Ich bitte Sie, seien Sie nicht unverschämt! Hätten Sie es vorgezogen, dass er sein Talent vergeudet und sich in dem erbärmlichen Zustand, in dem wir ihn gesehen haben, auf seine Insel zurückzieht?«, unterbrach ihn Ivory und hob dabei ebenfalls die Stimme. »Glauben Sie, ich wäre so grausam, ihn auf die Suche nach seiner Freundin zu schicken, wenn ich nicht ernsthaft davon überzeugt wäre, dass sie noch lebt? Halten Sie mich für ein Monster?«
»Das wollte ich damit nicht sagen«, entgegnete Walter ebenso heftig.
Der kurze Streit hatte die Aufmerksamkeit der Gäste erregt, die an den Nachbartischen speisten.
Walter fuhr in gemäßigtem Ton fort: »Sie haben gesagt, nicht der Lama interessiere uns, wer also dann?«
»Derjenige, der Adrians Leben gefährdet hat, der fürchtet, dass man Keira finden könnte, derjenige, der in diesem Fall zu allem bereit wäre. Erinnert Sie das an jemanden?«
»Seien Sie nicht so herablassend, ich bin nicht Ihr Untergebener.«
»Die Dachrenovierung der Akademie kostet ein kleines Vermögen …«
»Okay, ich habe verstanden. Sie verdächtigen also Sir Ashton!«
»Weiß er, dass Keira am Leben ist? Möglich. Will er das geringste Risiko ausschließen? Wahrscheinlich. Ich muss gestehen, wäre ich früher darauf gekommen, hätte ich Adrian nicht in seine Schusslinie gedrängt. Jetzt mache ich mir nicht mehr nur um Keira Sorgen, sondern vor allem auch um ihn.«
Ivory bezahlte die Rechnung und erhob sich. Walter nahm die Mäntel und trat zu ihm auf die Straße.
»Hier, Ihr Trenchcoat, den hätten Sie fast vergessen.«
»Ich komme morgen vorbei«, sagte Ivory und winkte ein Taxi heran.
»Ist das nicht etwas gewagt?«
»Jetzt habe ich schon die Reise bis hierher unternommen und fühle mich ja auch etwas mitverantwortlich, deshalb will ich ihn sehen. Wann gibt es die nächsten Untersuchungsergebnisse?«
»Jeden Morgen. Sie werden immer besser, das Schlimmste scheint überstanden, aber ein Rückfall ist noch jederzeit möglich.«
»Rufen Sie mich im Hotel an, wenn Sie mehr wissen, aber bloß nicht von Ihrem Handy aus, sondern aus einer Telefonzelle.«
»Glauben Sie wirklich, mein Telefon wird abgehört?«
»Ich habe keine Ahnung, mein lieber Walter. Gute Nacht.«
Ivory stieg in das Taxi. Walter beschloss, zu Fuß heimzugehen. Im Spätherbst war die Temperatur in Athen noch mild, ein sanfter Wind strich durch die Straßen, etwas frische Luft würde ihm guttun, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
Im Hotel angekommen, bat Ivory den Portier, das Schachspiel aus der Bar in sein Zimmer bringen zu lassen. Zu dieser späten Stunde würde es sicher kein anderer Gast mehr benutzen.
Eine Stunde später gab Ivory die Partie, die er in dem kleinen Salon seiner Suite gegen sich selbst spielte, auf und ging schlafen. Als er im Bett lag, ließ er alle Kontakte, die er im Laufe seiner Karriere in China geknüpft hatte, Revue passieren. Die Liste war lang, doch was ihn an dieser seltsamen Bestandsaufnahme am meisten störte, war die Tatsache, dass von denen,
an die er sich erinnerte, keiner mehr am Leben war. Der alte Herr schaltete das Licht ein und schob die Decke zurück, unter der ihm zu warm war. Er setzte sich auf die Bettkante, zog seine Hausschuhe an und betrachtete sich im Spiegel an der Schranktür.
»Ach, Vackeers, warum kann ich nicht auf Sie zählen, gerade jetzt, wo es so nötig wäre? Weil du auf niemanden zählen kannst, alter Narr, weil du außerstande bist, irgendjemandem zu vertrauen! Nun siehst du ja, wohin dich diese Arroganz geführt hat. Du bist allein und
Weitere Kostenlose Bücher