Die erste Nacht - Roman
chinesischen Militärtrupp, der sie bis in diese abgelegene Gegend verfolgt? Ich bin nicht ihr Feind. Wenn es nach mir ginge, würde ich sofort aufspringen und zu ihnen laufen. Doch mein Führer hat seinen Arm auf den meinen gelegt und hält mich zurück.
Die Tore des Klosters öffnen sich, und eine Kolonne von Arbeitermönchen macht sich auf den Weg, der zu den Feldern im Osten führt. Hinter ihnen schließen sich die schweren Flügel wieder.
Der Nomade springt auf und sucht Deckung im Unterholz. Im Schatten der großen Ulmen gibt er mir meine Tasche, und
ich begreife, dass er sich verabschiedet. Ich nehme seine Hände und drücke sie fest. Diese Geste der Zuneigung entlockt ihm ein Lächeln, er sieht mich eine Weile an, wendet sich dann ab und geht.
Nie in meinem Leben habe ich mich einsamer gefühlt als in jenem Augenblick, da ich auf dieser Hochebene und kaum aus dem Bus gestiegen, der Nacht und der Kälte zu entfliehen versuchte. Manchmal reicht ein Blick aus, eine Geste, um eine Freundschaft entstehen zu lassen, die sich über alles uns Fremde hinwegsetzt, und manchmal reicht eine ausgestreckte Hand aus, um ein Gesicht unserem Gedächtnis für immer einzuprägen. In den letzten Augenblicken meines Lebens möchte ich das Gesicht dieses tibetischen Nomaden und seiner kleinen Tochter mit den Apfelbäckchen vor mir sehen.
Ich folge dem Zug der Arbeitermönche, die ins Tal gehen, in sicherem Abstand. Von meinem Versteck aus kann ich sie problemlos beobachten, ich schätze, es sind etwa sechzig. Wie am Vortag entkleiden sie sich und baden im klaren Wasser des Flusses, bevor sie sich an die Arbeit machen.
Der Vormittag vergeht. Als die Sonne schon hoch am Himmel steht, spüre ich plötzlich wieder den kalten Schweiß auf meinem Rücken. Ich zittere am ganzen Leib. Ich suche in meinem Gepäck und finde eine Tüte mit Trockenfleisch, ein Geschenk meines Nomaden. Ich esse die Hälfte und hebe den Rest für den Abend auf. Wenn die Mönche heimkehren, werde ich zum Fluss laufen und trinken, bis dahin muss ich meinen Durst bezähmen, der durch das salzige Fleisch noch quälender geworden ist.
Warum empfinde ich Hunger, Durst, Kälte, Hitze und Erschöpfung auf dieser Reise so viel intensiver als sonst? Ich mache die Höhe dafür verantwortlich. Den Rest des Nachmittags
grübele ich darüber nach, wie ich ins Innere des Klosters gelangen kann. Die verrücktesten Ideen gehen mir durch den Kopf - bin ich dabei, den Verstand zu verlieren?
Um sechs Uhr beenden die Mönche ihre Arbeit und machen sich auf den Heimweg. Sobald sie hinter dem Hügel verschwunden sind, verlasse ich mein Versteck und laufe über die Felder. Ich tauche ein in den Fluss und stille meinen Durst.
Als ich wieder am Ufer bin, überlege ich, wo ich die Nacht verbringen soll. Die Vorstellung, im Unterholz zu schlafen, behagt mir nicht. Zu meinen Nomadenfreunden in der Hochebene zurückzukehren noch weniger, denn damit würde ich ihre Großzügigkeit ausnutzen. Mich zwei Abende durchzufüttern, war für sie sicher schon ein Opfer.
Schließlich entdecke ich eine Vertiefung im Berghang. Dort will ich mir eine Art Höhle bauen. Zugedeckt mit meinem Gepäck, werde ich die Nacht wohl überstehen können. Während ich warte, dass es dunkel wird, esse ich das restliche Fleisch und suche den Himmel nach dem ersten Stern ab, so wie man den Besuch eines Freundes erhofft, der die trüben Gedanken vertreibt.
Es wird Nacht. Obwohl ich fröstele, schlafe ich ein.
Wie viel Zeit ist vergangen, bis mich ein Rascheln aufweckt? Etwas nähert sich. Ich muss der Angst widerstehen. Falls sich ein wildes Tier hier herumtreibt, ist es besser, ich bleibe in meinem Versteck, statt als leichte Beute durch die Dunkelheit zu laufen. Kluge Gedanken, doch schwer in die Tat umzusetzen, wenn einem das Herz vor Angst bis zum Hals schlägt! Welches Raubtier mag das sein? Und was habe ich hier in diesem Erdloch zu suchen, Tausende Kilometer von meinem Zuhause entfernt? Was habe ich hier zu suchen, schmutzig, mit klammen Händen und tropfender Nase? Was habe ich in diesem fremden Land verloren, wo ich dem
Phantom einer Frau nachjage, von der ich vor sechs Monaten noch gar nichts wusste und nach der ich heute völlig verrückt bin? Ich will zurück zu Erwan auf das Atacama-Hochplateau, zurück in mein behagliches Haus in London, ich will anderswo sein, statt mir hier die Eingeweide von einem verdammten Wolf herausreißen zu lassen. Mich nicht bewegen, nicht zittern, nicht atmen, die
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