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Die erste Nacht - Roman

Die erste Nacht - Roman

Titel: Die erste Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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Augen schließen, damit sich der Mond nicht darin spiegeln kann. Kluge Gedanken, doch schwer in die Tat umzusetzen, wenn einen die eiserne Faust der Furcht packt und schüttelt. Ich habe den Eindruck, zwölf Jahre alt, völlig unsicher und hilflos zu sein. Plötzlich sehe ich den Schein einer Fackel. Vielleicht ist es ein Dieb, der es auf meine kümmerliche Habe abgesehen hat? Und was verbietet mir, mich zu verteidigen?
    Ich muss aus diesem Loch heraus, das Dunkel verlassen und mich der Gefahr stellen. Ich habe diese ganze Reise nicht gemacht, um mich von einem Schurken ausrauben oder abstechen zu lassen wie ein Stück Vieh.
    Ich öffne die Augen.
    Die Fackel nähert sich dem Fluss. Der Träger kennt den Weg genau, er fürchtet keine Fallen, keine Erdlöcher. Die Fackel wird in einen Lehmhügel gesteckt. Zwei Silhouetten tauchen im Schein der Flamme auf. Eine etwas zierlicher als die andere, wohl die zweier Jugendlicher. Eine hält inne, die andere geht zum Ufer, legt ihr Gewand ab und steigt ins kalte Wasser. Auf die Angst folgt Hoffnung. Diese Mönche haben womöglich allen Verboten getrotzt, um hier im Schutz der Nacht zu baden. Vielleicht können sie mir helfen, in die befestigte Anlage zu gelangen? Ich robbe durchs Gras zum Fluss, und plötzlich halte ich den Atem an.
    An diesem anmutigen Körper ist mir nichts unbekannt. Die schlanken Beine, die schön geschwungenen Hüften, der
schmale Rücken, der Bauch, die Schultern, der Nacken, die stolze Haltung des Kopfes.
    Du bist da, du badest in diesem Fluss, der jenem gleicht, in dem ich dich habe sterben sehen. Dein Körper im Mondlicht ist wie eine Erscheinung, ich hätte dich unter tausend anderen erkannt. Du bist da, wenige Meter von mir entfernt, doch wie soll ich mich dir nähern? Wie soll ich in meinem Zustand vor dich treten, ohne dich so zu erschrecken, dass du um Hilfe rufst? Du stehst bis zu den Hüften im Fluss, schöpfst Wasser mit den Händen, um dein Gesicht damit zu benetzen. Jetzt gehe auch ich zum Fluss, wasche auch ich mein Gesicht, um die Erde daraus zu entfernen.
    Der Mönch, der dich begleitet, lässt mir Zeit dazu, denn er hat dir den Rücken zugekehrt. Er hält Abstand - vielleicht aus Angst, sein Blick könnte auf deine Nacktheit fallen. Mein Herz klopft zum Zerspringen, mein Blick verschleiert sich, als ich mich dir noch mehr nähere. Du kommst zum Ufer zurück, genau auf mich zu. Als sich unsere Blicke treffen, hältst du kurz inne, neigst den Kopf, musterst mich und gehst dann an mir vorbei, so als wäre ich gar nicht da.
    Dein Blick ist abwesend, schlimmer noch, es ist nicht dein Blick. Schweigend kleidest du dich wieder an, so als könne kein Laut aus deiner Kehle dringen. Dann wendest du dich dem zu, der dich hierhergebracht hat. Dein Begleiter nimmt die Fackel, und ihr steigt den Pfad wieder hinauf. Ich folge euch, ohne dass ihr es bemerkt; nur einmal, als ein Stein unter meinen Füßen wegrollt, dreht sich der Mönch um, dann setzt ihr euren Weg fort. Beim Kloster angelangt, lauft ihr an der Mauer entlang, vorbei an dem großen Tor, und ich sehe euch in einem Graben verschwinden. Die Flamme flackert noch einmal auf, dann erlischt sie. Starr vor Kälte warte ich eine Weile. In der Hoffnung, einen Zugang zu finden, laufe ich schließlich
zu der Vertiefung, in der ihr verschwunden seid, doch ich finde dort nur eine kleine Holztür, die fest verschlossen ist. Ich hocke mich hin, um wieder zu mir zu kommen, und kehre in meinen Bau am Waldrand zurück wie ein Tier.
     
    Später in der Nacht. Ein Gefühl des Erstickens reißt mich aus meiner Benommenheit. Meine Glieder sind steif. Die Temperatur ist drastisch gesunken. Ich kann meine Finger kaum mehr rühren, um den Verschluss meiner Tasche zu öffnen und Kleidung herauszunehmen. Die Erschöpfung verlangsamt meine Bewegungen. Dann fallen mir diese Geschichten von den Alpinisten ein, die der Berg langsam wiegt, bevor er sie in ewigen Schlaf versetzt. Ich befinde mich in fast viertausend Metern Höhe, welche Leichtfertigkeit hat mich dazu getrieben zu glauben, ich könne die Nacht draußen überleben? Ich werde in einem kleinen Wäldchen aus Haselnusssträuchern und Ulmen krepieren, auf der falschen Seite der Mauer, nur wenige Meter von dir entfernt. Es heißt, im Augenblick des Todes würde sich vor dem Sterbenden ein dunkler Tunnel auftun, an dessen Ende ein helles Licht scheint. Davon sehe ich nichts, meine einzige Vision wird gewesen sein, dich im Fluss beim Baden beobachtet zu haben.
    In

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