Die erste Nacht - Roman
von unendlicher Trostlosigkeit.
Es regnet ununterbrochen, die Scheibenwischer werden der Wassermengen kaum Herr, auf der Fahrbahn droht Aquaplaning. Als ich einen Lastwagen überhole, sieht mich der Fahrer befremdet an. Es scheint nicht viele Touristen in dieser Region zu geben.
Zweihundert Kilometer liegen hinter mir, noch sechs Fahrstunden vor mir. Wie gerne würde ich Walter anrufen und ihn bitten, mich zu begleiten. Die Einsamkeit lastet schwer auf mir, ich ertrage sie nicht mehr. Den Egoismus meiner Jugend habe ich in den trüben Wassern des Gelben Flusses verloren. Ein Blick in den Rückspiegel beweist mir, dass sich mein Gesicht verändert hat. Walter würde mir sagen, dass es an der Müdigkeit liegt, ich aber weiß, dass ich eine Schwelle übertreten habe und dass es kein Zurück gibt. Ich wünschte, ich hätte Keira früher kennengelernt und nicht all diese Jahre in dem Glauben vergeudet, das Glück liege in dem, was ich leiste. Das Glück ist viel bescheidener, es liegt in der geliebten Person.
Vor mir, am Ende der Ebene, erhebt sich eine Gebirgskette. Ein Straßenschild gibt in westlicher Schrift an, dass es noch sechshundertsechzig Kilometer bis Chengdu sind. Ein Tunnel, die Autobahn dringt in den Fels, keine Möglichkeit mehr, Radio zu hören, doch das stört mich nicht weiter, da mir diese ewige asiatische Popmusik unerträglich ist. Über zweihundertfünfzig Kilometer folgt jetzt eine Brücke nach der anderen über tiefe Schluchten. In Guangyuan halte ich an einer Tankstelle.
Der Kaffee ist gar nicht so schlecht.
Mit einer Schachtel Kekse neben mir auf dem Beifahrersitz setze ich meinen Weg fort.
Jedes Mal, wenn ich durch eines der engen Täler fahre, entdecke ich irgendwo einen winzigen Weiler. Es ist kurz nach zwanzig Uhr, als ich Mianyang erreiche. In dieser Stadt der Wissenschaften und Technologie ist die Moderne nahezu greifbar. Am Ufer eines Flusses erheben sich hohe Stahl- und Glastürme. Die Dunkelheit bricht herein, bleierne Müdigkeit drückt mich nieder. Ich müsste anhalten, um zu schlafen und wieder zu Kräften zu kommen. Ich studiere die Karte. Von Chengdu aus werde ich mehrere Stunden brauchen, um mit dem Bus zum Kloster Garther zu gelangen. Auch mit dem besten Willen ist das heute nicht mehr zu schaffen.
Ich finde ein Hotel, stelle meinen Wagen dort ab und laufe über die zementierte Promenade am Flussufer. Es hat aufgehört zu regnen. Auf verschiedenen Restaurantterrassen sind die Tische gedeckt, Gasstrahler sorgen für ausreichend Wärme.
Das Essen ist zu fett für meinen Geschmack. In der Ferne hebt ein Flugzeug mit ohrenbetäubendem Lärm ab. Es zieht eine weite Schleife über die Stadt und dreht dann ab gen Süden. Wahrscheinlich der letzte Flug des Abends. Wohin geht die Reise dieser Passagiere, die an den kleinen erleuchteten
Fenstern sitzen? London und Hydra sind so fern. Ich verfalle in Trübsinn. Wenn Keira wirklich lebt, warum dann dieses Schweigen? Was ist ihr widerfahren, das dieses Verschwinden rechtfertigt? Dieser Mönch hat vielleicht recht, ich muss verrückt sein, mich einer solchen Illusion hinzugeben. Der Schlafmangel verschlimmert die finsteren Gedanken noch. Die Schwärze der Nacht ist bedrückend. Meine Hände sind feucht, und diese Feuchte durchdringt meinen ganzen Körper. Ich zittere, mir ist warm, mir ist kalt. Der Kellner tritt an meinen Tisch, und ich erahne, dass er mich fragt, ob alles in Ordnung ist. Ich möchte ihm antworten, bin aber außerstande, das geringste Wort hervorzubringen. Ich trockne mir den Nacken mit meiner Serviette, mein Rücken ist nass von Schweiß, und die Stimme des Mannes dringt wie aus weiter Ferne zu mir. Das Licht der Terrasse verblasst, alles dreht sich um mich herum, dann nur noch das Nichts.
Das Dunkel schwindet, langsam komme ich zu mir, ich höre Stimmen, zwei, drei? Man spricht mit mir in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Dann wieder glaube ich, Griechisch zu hören - meine Mutter, Tante Helena? Und plötzlich Englisch - ist Walter zu Besuch gekommen? Wo bin ich? Da legt sich etwas Kühles auf meine Stirn. Ich öffne die Augen.
Die Züge einer alten Chinesin. Sie tätschelt meine Wange, gibt mir durch Gesten zu verstehen, dass das Schlimmste überstanden ist. Sie befeuchtet meine Lippen und murmelt Worte, die mich wohl beruhigen sollen.
Ich spüre ein Prickeln. Das Blut zirkuliert in meinen Adern. Ich muss in Ohnmacht gefallen sein. Die Müdigkeit, ein Virus, den ich mir eingefangen habe, oder etwas,
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