Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules
hatte sich gerade in Bewegung gesetzt, als der Schaffner auf Poirot zukam und seine Fahrkarte verlangte. Nachdem er sie in Empfang genommen und mit einer Furcht gebietenden Zange geknipst hatte, gab er sie mit einer Verbeugung zurück. Zugleich fühlte Poirot, wie ihm mit der Fahrkarte ein zusammengefaltetes Papier in die Hand gedrückt wurde.
Hercule Poirots Augenbrauen hoben sich ein wenig. Bald darauf faltete er das Papier unauffällig und bedächtig auseinander. Es war eine hastig mit Bleistift gekritzelte Mitteilung. Sie lautete:
Unmöglich, diesen Schnurrbart zu verkennen! Ich begrüße Sie, li e ber Kollege. Wenn Sie wollen, können Sie mir einen großen Dienst erweisen. Sie haben zwe i fellos von der Affäre Salley gehört? Der Killer – Ma r rascaud – hat angeblich ein Rendezvous mit einigen Mitgliedern seiner Bande in Rochers-de-Naye – von allen Orten in der Welt gerade dort! Natürlich kann die ganze G e schichte ein Schwindel sein, aber unsere Informationen sind im Allgemeinen verlässlich. Es gibt immer irgen d jemand, der nicht dichthält, nicht wahr? Also halten Sie die Augen offen, mein Lieber. Setzen Sie sich in Verbindung mit Inspektor Drouet, der oben ist. Er hat g e sunden Menschenverstand, aber er kann sich nicht mit dem Genie eines Hercule Poirot messen. Es ist wichtig dass Marrascaud l e bendig gefasst wird. Er ist kein Mensch – er ist ein wilder Eber –, einer der gefäh r lichsten Killer, die heute herumlaufen. Ich wollte Sie nicht früher ansprechen, da ich vielleicht beobac h tet wurde, und Sie werden freiere Hand haben, wenn man Sie für einen gewöhnl i chen Touristen hält.
Weidmanns Heil!
Ihr alter Freund – Lementeuil.
Hercule Poirot strich sich nachdenklich den Schnurrbart. Ja, Hercule Poirots Schnurrbart ist tatsächlich nicht zu verkennen. Also, worum handelte es sich da? Er hatte in den Zeitungen die Details des Falles Salley gelesen – kaltblütiger Mord an einem berühmten Pariser Verleger. Die Identität des Mörders stand fest. Marrascaud war Mitglied einer berüchtigten Bande, die hauptsächlich auf Rennplätzen operierte. Er stand unter dem Verdacht vieler anderer Morde, aber dieses eine Mal war die Schuld restlos erwiesen. Er war entkommen, vermutlich über die französische Grenze, und wurde in ganz Europa polizeilich gesucht.
Marrascaud hatte also angeblich ein Rendezvous in Rochers-de-Naye.
Hercule Poirot schüttelte langsam den Kopf. Er wunderte sich. Denn Rochers-de-Naye war oberhalb der Schneegrenze. Es hatte zwar ein Hotel, aber das stand nur durch die Drahtseilbahn mit der Außenwelt in Verbindung, da es auf einer langen schmalen Felsenklippe stand, die das Tal überragte. Das Hotel wurde stets im Juni eröffnet, aber vor Juli, August gab es nur sehr wenige Gäste dort oben. Es war ein Ort mit wenig Ein- und Ausgängen, und wenn ein Mann dort aufgespürt wurde, so war er in einer Falle. Es schien ihm unglaublich, dass eine Verbrecherbande gerade diesen Ort als Rendezvous auswählte.
Aber wenn Lementeuil sagte, dass seine Information verlässlich sei, dann hatte er wahrscheinlich Recht. Hercule Poirot schätzte den Schweizer Polizeikommissar aufrichtig. Er kannte ihn als einen vernünftigen, verlässlichen Menschen.
Irgendein geheimer Grund führte Marrascaud zu diesem Treffpunkt weit oberhalb der Zivilisation.
Hercule Poirot seufzte. Einem erbarmungslosen Killer nachzujagen, war nicht seine Vorstellung eines angenehmen Urlaubs. Gedankenarbeit in einem Lehnstuhl sagte ihm mehr zu, als einen wilden Eber auf schneebedecktem Berghang einzufangen. Ein wilder Eber – so hatte Lementeuil sich ausgedrückt. Es war wirklich ein sonderbarer Zufall…
Er murmelte vor sich hin: »Die vierte Arbeit des Herkules – Der Erymanthische Eber.«
Ruhig und unauffällig studierte er seine Mitreisenden. Ihm gegenüber saß ein amerikanischer Tourist. Vom Schnitt seines Anzugs, seines Mantels, seiner erwartungsvollen Freundlichkeit und seiner naiven Landschaftsbegeisterung bis zum Reiseführer in seiner Hand verriet alles den amerikanischen Kleinstädter, der zum ersten Mal in Europa ist. In ein bis zwei Minuten, schätzte Poirot, würde er ein Gespräch vom Zaun brechen.
Auf der anderen Seite des Wagens las ein großer, vornehm aussehender Herr mit angegrautem Haar und einer großen, gebogenen Nase in einem deutschen Buch. Er hatte die kräftigen, geschmeidigen Finger eines Musikers oder Chirurgen.
Noch etwas weiter entfernt saßen drei Männer, alle vom
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