Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules
mit ins Spital… Si, si, sie ist in der Narkose gestorben, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen.« Die Mutter hatte unter Tränen gemurmelt:
»Bianca war immer ein so kluges Mädchen. Es ist furchtbar, dass sie so jung sterben musste…«
Hercule Poirot wiederholte für sich:
»Sie starb jung…«
Das war die Botschaft, die er dem Jungen bringen musste, der sich so vertrauensvoll an ihn gewandt hatte.
»Sie war nicht für Sie bestimmt, mein Freund, sie starb jung.«
Seine Suche war beendet – hier, wo der Schiefe Turm sich gegen den Himmel abhob und die ersten Frühlingsblumen, bleich und samtig, mit ihrem Versprechen künftiger Freude und künftigen Lebens sich zeigten.
Hatte die Frühlingsluft ihn so aufgewühlt, dass er dieses letzte Verdikt nicht akzeptieren wollte? Oder war es etwas anderes? Etwas, das sich im Inneren seines Kopfes regte? Worte – ein Satz – ein Name? Endete das Ganze nicht zu einfach, war dieser Schluss nicht allzu simpel?
Hercule Poirot seufzte. Er musste noch eine Reise machen, um jedweden Zweifel zu beheben. Er musste nach Vagray-les-Alpes fahren.
Hier, dachte Poirot, war tatsächlich das Ende der Welt. Diese Schneewände – diese verstreuten Hütten und Häuschen, wohin sich Menschen im Kampf mit einem heimtückischen Tod zurückgezogen hatten.
So gelangte er endlich zu Katrina Samoushenka. Als er sie da liegen sah, mit zwei grellroten Flecken auf den hohlen Wangen und den langen abgemagerten Händen, die auf der Bettdecke lagen, regte sich eine Erinnerung in ihm. Er hatte sich nicht an ihren Namen erinnert, aber er hatte sie doch tanzen gesehen – er war von ihrer Kunst hingerissen und fasziniert gewesen, jener höchsten Kunst, die einen die Kunst vergessen macht.
Er erinnerte sich an Michael Novgin, den Jäger, seine Sprünge und Pirouetten in jenem phantastischen, unheimlichen Wald, den Ambrose Vandels Genie geschaffen hatte. Und er erinnerte sich an die wunderschöne, fliehende Hindin, ewig verfolgt, ewig begehrt – ein goldblondes herrliches Geschöpf mit Hörnern auf dem Kopf und schimmernden bronzenen Füßen. Er erinnerte sich an ihre Todesszene, wie sie verwundet und angeschossen niedergesunken war und wie Michael Novgin bestürzt den Leichnam der getöteten Hindin in den Armen gehalten hatte.
Katrina Samoushenka sah ihn neugierig an.
»Ich habe Sie noch nie gesehen, nicht wahr? Was wünschen Sie von mir?«, flüsterte sie.
Hercule Poirot machte eine kleine Verbeugung.
»Zuerst, Madame, möchte ich Ihnen für Ihre begnadete Kunst danken – durch die Sie mir einen Abend vollendeter Schönheit geschenkt haben.«
Sie lächelte matt.
»Aber ich bin auch beruflich hier. Ich fahnde seit langer Zeit nach einem Mädchen, die bei Ihnen Zofe war – sie hieß Nita.«
»Nita?«
Sie starrte ihn mit großen, erschrockenen Augen an und fragte:
»Was wissen Sie von – Nita?«
»Das werde ich Ihnen sagen.«
Er erzählte ihr von dem Abend, als sein Wagen eine Panne hatte, und von Ted Williamson, wie er, die Mütze verlegen in den Händen drehend, stammelnd von seinem Liebeskummer erzählt hatte. Sie lauschte ihm gespannt.
Als er geendet hatte, sagte sie:
»Das ist sehr rührend – ja, sehr rührend…«
Hercule Poirot nickte.
»Ja«, meinte er. »Es ist wie ein Märchen aus Arkadien, nicht wahr? Was können Sie mir über dieses Mädchen berichten, Madame?«
Katrina Samoushenka seufzte.
»Ich hatte ein Dienstmädchen – Juanita. Sie war schön, ja – fröhlich; leichtherzig. Es geschah, was so oft jenen geschieht, die die Götter lieben. Sie starb jung.«
So hatten Poirots eigene Worte gelautet – endgültige Worte – unwiderrufliche Worte. Jetzt hörte er sie wieder – und doch drang er weiter in sie:
»Sie ist tot?«
»Ja, sie ist tot.«
Hercule Poirot schwieg einen Augenblick, dann wandte er ein:
»Aber etwas kann ich nicht verstehen. Ich fragte Sir George Sanderfield nach Ihrer Zofe, und er schien sich zu fürchten. Warum?«
Ein leichter Ausdruck des Widerwillens erschien auf den Zügen der Tänzerin.
»Sie fragten einfach nach einer Zofe von mir. Er dachte, Sie meinten Marie – das Mädchen, das nach Juanita zu mir kam. Sie versuchte, ihn zu erpressen, glaube ich, wegen etwas, das sie von ihm wusste. Sie war ein ekelhaftes Ding – voller Neugier – und schnüffelte immer in Briefen und Schubladen herum.«
Poirot murmelte: »Das wäre also aufgeklärt.«
Er schwieg eine Minute und fuhr dann hartnäckig fort:
»Juanitas Familienname
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