Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules
vielleicht die Dame bemerkt habe? Sie kam jedes Jahr um diese Zeit. Ihr Mann war vor drei Jahren hier beim Klettern tödlich verunglückt. Es war tragisch. Sie hatten einander sehr geliebt. Sie kam immer vor der Saison, um ungestört zu sein. Es war eine fromme Wallfahrt. Der ältere Herr war ein berühmter Arzt, Dr. Karl Lutz aus Wien. Er war hergekommen, sagte er, um die Ruhe und den Frieden zu genießen.
»Ja, es ist sehr friedlich hier«, stimmte Poirot zu. »Und ces messieurs dort? Suchen sie auch die Ruhe, glauben Sie?«
Der Direktor zuckte die Achseln. Er bekam wieder jenen ängstlichen Blick und sagte ausweichend:
»Oh, die Touristen suchen immer etwas Neues… Die Höhe – das allein ist ein neues Gefühl.«
Es war kein sehr angenehmes Gefühl, fand Poirot. Er fühlte, wie sein Herz aufgeregt pochte. Ein Kindervers kam ihm dummerweise in den Sinn: »Hoch über allem G e wimmel wie ein Teebrett im Himmel.«
Schwartz kam in die Halle. Seine Augen leuchteten auf, als er Poirot erblickte. Er kam gleich auf ihn zu.
»Ich habe mit dem Doktor gesprochen. Er spricht ein wenig Englisch. Er ist Jude – von den Nazis seinerzeit aus Österreich vertrieben. Dieser Doktor Lutz war früher, scheint es, ein ganz großer Mann – Nervenspezialist, Psychoanalyse und all das Zeug.«
Seine Augen schweiften zu der schlanken Dame, die aus einem Fenster auf die unbarmherzigen Berge blickte. Er senkte die Stimme.
»Der Kellner hat mir ihren Namen verraten. Sie ist eine Madame Grandier. Ihr Mann stürzte hier beim Klettern ab. Darum kommt sie her. Ich finde, wir sollten etwas tun, um sie abzulenken, nicht wahr?«
»Ich würde es an Ihrer Stelle nicht versuchen«, wehrte Poirot ab.
Aber die Menschenfreundlichkeit von Mr Schwanz war nicht zu bändigen.
Poirot sah, wie er seinen Annäherungsversuch machte, und die eisige Kälte, mit der er abgewiesen wurde. Die Dame war größer als Schwartz. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen, und ihre Miene war hart und abweisend.
Er hörte nicht, was sie sagte, aber Schwartz kam kleinlaut zurück.
»Nichts zu machen«, seufzte er und fügte betrübt hinzu: »Da wir alle Menschen sind, sehe ich nicht ein, warum wir nicht alle miteinander freundlich sein sollen. Finden Sie nicht? Mr – Wissen Sie, dass ich Ihren Namen nicht kenne?«
»Ich heiße Poirier«, sagte Poirot und fügte hinzu: »Ich habe eine Seidenfabrik in Lyon.«
»Gestatten Sie, dass ich Ihnen meine Karte gebe, Mr Poirier, und wenn Sie je nach Fountain Springs kommen sollten, so werden wir uns sehr freuen.«
Poirot nahm die Visitenkarte, befühlte seine Tasche und murmelte:
»Leider habe ich im Augenblick keine Karte bei mir…«
An diesem Abend, als Poirot zu Bett ging, las er Lementeuils Brief nochmals aufmerksam durch, ehe er ihn sauber gefaltet wieder in seine Brieftasche steckte. Als er ins Bett stieg, sagte er zu sich selbst:
»Es ist merkwürdig – ich frage mich…«
Gustave, der Kellner, brachte Poirot seinen Morgenkaffee mit Brötchen.
»Monsieur sieht ein, nicht wahr, dass es in dieser Höhe unmöglich ist, den Kaffee wirklich heiß zu servieren?«
»Man muss die Launen der Natur mit Gleichmut hinnehmen.«
Gustave flüsterte:
»Monsieur ist ein Philosoph.«
Er ging zur Tür, aber anstatt das Zimmer zu verlassen, warf er einen Blick hinaus, machte dann die Tür wieder zu und kam zum Bett zurück.
Er sagte:
»Monsieur Hercule Poirot? Ich bin Drouet, Polizeiinspektor.«
»Ah«, sagte Poirot, »ich hatte schon so etwas vermutet.«
Drouet senkte die Stimme:
»Monsieur Poirot, es ist etwas sehr Ernstes vorgefallen. Es ist ein Unglück bei der Drahtseilbahn geschehen.«
»Ein Unglück?« Poirot setzte sich auf. »Was für ein Unglück?«
»Es wurde niemand verletzt. Es geschah in der Nacht. Es lässt sich vielleicht auf natürliche Ursachen zurückführen – eine kleine Lawine, die Felsen und Geröll mitgerissen hat. Aber es kann auch Sabotage sein. Man weiß es nicht. Jedenfalls wird die Reparatur viele Tage in Anspruch nehmen, mit dem Resultat, dass wir in dieser Zeit hier oben vollkommen abgeschnitten sind. In dieser Jahreszeit, wo noch so viel Schnee liegt, ist es unmöglich, sich mit dem Tal in Verbindung zu setzen.«
Hercule Poirot setzte sich im Bett auf.
»Das ist sehr interessant«, meinte er.
Der Inspektor nickte.
»Ja«, sagte er, »es beweist, dass unser Kommissar richtig informiert war. Marrascaud hat ein Rendezvous hier, und er hat seine Vorkehrungen getroffen, dass dieses
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