Die Erzaehlungen 1900-1906
einführe. Wirklich ist dies auch wohl meine eigentlichste Eigenschaft. Wenigstens habe ich keinen wertvolleren Besitz und keinen, der mich mehr freut und auf den ich stolzer bin, als meine Bibliothek. Auch finde ich mich im Vielerlei der Bücherwelt leichter zurecht als im Wirrwarr des Lebens und bin im Finden und Festhalten schöner alter
Bücher besonnener und glücklicher gewesen als in meinen Versuchen, anderer
Menschen Schicksale freundlich mit dem meinigen zu verknüpfen.
Immerhin war ich bemüht, immer wieder lebendige Berührung mit allem
Menschlichen zu haben, und auch meine Liebhaberei für alte Scharteken ist
vielleicht nicht ohne Beziehungen zum Leben, mag sie auch nur wie das Stek-
kenpferd eines alternden Hagestolzes aussehen.
Die Teilnahme und die Freude, die ich an meinen Büchern habe, gilt nicht
nur ihrem Inhalt, ihrer Ausstattung und ihrer Seltenheit, sondern es ist mir ein besonderes Bedürfnis und Vergnügen, womöglich auch die Geschichte dieser
Bücher zu kennen. Ich meine damit nicht die Geschichte ihrer Entstehung und
Verbreitung, sondern die Privatgeschichte des einzelnen, zur Zeit mir gehörigen Exemplares.
Wenn ich in einem älteren Dichter blättere, in einer frühen Ausgabe von
Claudius, von Jean Paul, von Tieck oder Hoffmann, und ich fühle das hei-
melig altmodische, schlichte Druckpapier zwischen Daumen und Zeigefinger,
so kann ich mich nie enthalten, der dahingegangenen Geschlechter zu denken,
welchen diese altgewordenen Papierblätter einst Gegenwart, Leben, Rührung
und Neuheit bedeutet haben. Wenn man doch wissen könnte, in wie vielen vor
Begeisterung und Lesefieber zitternden Händen so ein altes Exemplar des Ti-
tan oder des Werther gelegen hat, wie oft es in altfränkischen, ampelbeglänzten 18
Zimmern nächtelang eine junge Seele zu Jauchzen und zu Tränen entzündet
hat!
Wie sonderbar teuer sind uns schon die Bücher, die sich vom Urahn her
durch die Familie auf uns herab geerbt haben, die wir schon als Kinder im
alten Spinde stehen sahen und die wir in den aufbewahrten Briefwechseln
und Tagebüchern unserer Großeltern erwähnt finden! Und auf manchen aus
fremder Hand erworbenen Büchern finden wir fremd klingende Namen ehe-
maliger Besitzer, Dedikationen aus dem vorvorigen Jahrhundert, und denken
uns, so oft wir einen Federstrich, ein eingebogenes Ohr, eine Randglosse oder ein altes Lesezeichen finden, diese seit vielen Jahrzehnten gestorbenen Besitzer dazu, ehrwürdige Männer und Frauen mit ernsten, familiären Gesichtern und
in längst veralteten kuriosen Röcken, Manschetten und Krausen, Leute, die
das Erscheinen des Werther, Götz, Wilhelm Meister und die Erstaufführungen
Beethovenscher Werke erlebt haben.
Unter den alten Lieblingsbänden in meinen Bücherschränken sind viele, de-
ren mutmaßliche Geschichte für mich ein reiches Feld köstlich neugieriger Forschungen und Vermutungen ist. Dabei bin ich im Phantasieren und Erfinden
nicht allzu sparsam, teils aus Vergnügungslust, teils in der Überzeugung, daß alles Erfassenwollen der wahren, inneren Geschichte vergangener Zeiten ein
Werk der Phantasie und nicht des wissenschaftlichen Erkennens ist. Von den
in prachtvoller Antiqua gedruckten aldinischen Oktavbänden der italienischen Renaissance bis zu den Erstausgaben von Mörike, Eichendorff und der Bettina
habe ich fast für jeden Band meiner Sammlung einen imaginären ersten Be-
sitzer. Kriege, Feste, Intrigen, Diebstahl, Tod, Mord spielen gelegentlich mit, ein Stück wirklicher Welthistorie und erdichteter Familiengeschichten hängt
an den antiquarischen Schwarten, deren Einbände mir, selbst wo sie etwas
schadhaft sind, von keinem modernen Buchbinder berührt werden dürfen.
Außerdem aber besitze ich einige Bücher, deren Vergangenheit mir teils
ganz, teils wenigstens jahrzehnteweis bekannt ist. Ich weiß die Namen ihrer
ehemaligen Leser und den des Buchbinders, der sie seinerzeit gebunden hat;
ich weiß von darinstehenden schriftlichen Glossen und Notizen Hand und Jahr, woraus sie stammen. Ich weiß von Städten, Häusern, Zimmern und Schränken,
in denen sie standen; ich weiß von Tränen, die auf sie geflossen sind und deren Ursache ich kenne.
Diese paar Bücher schätze ich über alle anderen. Der Umgang mit ihnen hat
mir manche melancholische Stunde heller gemacht; denn oft werde ich einsa-
mer Mann mitten unter der schweigsamen Gesellschaft meiner Scharteken von
Trauer überfallen, wenn ich sehe, wie
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