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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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schnell alles das, was einmal modern und neu und wichtig war, dem kühlen, mitleidig lächelnden Interesse einer anderen Zeit oder der Vergessenheit anheimfällt und wie schnell das Gedächtnis des
    einzelnen verlischt.
    19
    Dann reden mir diese paar Bände tröstend vom Geheimnis der Liebe, vom
    Bleibenden im Wechsel der Zeiten. Sie geben mir, wenn ich mir einsam er-
    scheine, zu Nachbarn die aufsteigenden Bildnisse ihrer gestorbenen Freunde,
    deren Kette ich mich willig und dankbar anschließe. Denn in solchen Zeiten ist das Gefühl, als untergeordnetes und geringes Glied einer festen Gemeinschaft und Folge anzugehören, immer noch besser und tröstlicher als das grausame
    und sinnlose Alleinsein im Unendlichen.
    Von diesen lieben Büchern habe ich nun eines ausgewählt, dessen Geschichte
    ich erzählen will, damit es dadurch vielleicht einem späteren Besitzer teurer werde.
    Unter den verschiedenen Ausgaben des Novalis, die ich allmählich zusam-
    mengebracht habe, ist auch eine
    vierte, vermehrte
    vom Jahre 1837, ein
    Stuttgarter Nachdruck auf Löschpapier in zwei Bänden. Seit dessen erstem
    Besitzer, dem Großvater eines meiner Freunde, ist es dauernd in Händen von
    mir bekannten oder verwandten Leuten geblieben, so daß seine Geschichte mir
    leicht zu erforschen war.
    2
    Es war im Frühling des Jahres 1838. Der Chef der Witzgallschen Buchhand-
    lung in Tübingen schnitt ein saures Gesicht. Sein er ster Gehilfe stand neben ihm am Stehpult und hielt ein Hand billett des Kandidaten Rettig in den
    Fingern, während auf dem Pulte das Bücherkonto ebendesselben Kandida-
    ten aufgeschlagen lag. Auf diesem Konto stand in netter Schrift und klaren
    Zahlen der ganze stattliche Bücherbezug des Studiosen Rettig seit sieben Se-
    mestern verzeichnet. Zu Anfang fanden sich je und je einzelne Zahlungen von
    einigen Gulden gutgeschrieben, seit langer Zeit aber stand auf der Seite des Habens nichts mehr eingetragen, und die Endsumme überstieg nach Abzug jener Gutschriften weit zweihundertfünfzig Gulden. Am Rande des Blattes war
    mit Bleistift vermerkt:
    Will im März 1838 bezahlen.
    Heute aber war schon
    der siebente April, und das Handbillett des Kandidaten lautete:
    Mein wertgeschätzter Herr! Ich las Ihre etwas herb stilisierte Mahnung
    soeben. Bin ich ein Hund? Bin ich ein Schwindler? Nein, sondern ein Kan-
    didat der Philologie und Mann von Ehre, wenn auch ohne Geld. Beiläufig
    gesagt, halte ich die Bezeichnung des seelenlosen Metalles als nervus rerum
    für eine Infamie Sie nicht auch? Also ich werde Sie bezahlen, nur jetzt nicht.
    Damit Sie aber einen tätlichen Beweis für meinen guten Willen sehen, schla-
    ge ich Ihnen vor, den mir entbehrlichen Teil meiner Bibliothek antiquarisch
    zurückzunehmen und mir eine angemessene Summe dafür gutzuschreiben. Zu
    diesem Zweck erwarte ich Sie morgen zwischen zwei und vier Uhr auf meiner
    Bude, Neckarhalde Nummer 8.
    20
    Der Prinzipal war äußerst ungehalten und trug sich mit dem zornigen Ent-
    schlusse, die Eintreibung der alten Schuld dem Gerichtsvollzieher zu überge-
    ben. Doch überredete ihn der kluge Gehilfe, Rettigs Vorschlag anzunehmen.
    Er rechnete richtig, daß Rettig als Sohn einer achtbaren Familie und als begabter Mensch nach Möglichkeit zu schonen sei, da er ohne Zweifel ein berühmtes Examen machen und vielleicht schon in wenigen Jahren als Philolog und Literat glänzen würde. Es wurde daher beschlossen, die Bücher des Schuldners
    zu möglichst niederem Preise zurückzunehmen, und der Gehilfe erhielt Auf-
    trag, anderen Tages zur bestimmten Zeit die Schätzung vorzunehmen und das
    Notwendige mit dem Kandidaten zu vereinbaren.
    Während eben dieser Stunde saß Rettig in düsterer Stimmung auf seiner
    Bude. Sein Fenster blickte über
    Stift
    und
    Hölle
    hinweg auf die Alleen
    und die sanften Bergzüge der Alb, über deren nähergelegenen Hügelrücken
    schon der erste hellgrüne Hauch des neuen Frühlings zu leuchten begann.
    Der Tag war föhnklar, blauer Himmel und lichte streifige Wolken glänzten
    mit starken Farben durch die transparente, überklare Luft. Auf der Straße
    scholl häufig Gesang von geselligen Liedern, lautes Gespräch, Wagenrollen
    und Hufschlag vorbeitrabender Reiter, denn es war der erste sonnige Tag des
    April.
    Von dem allem bemerkte Rettig nichts. Der Witzgallsche Handel zwar be-
    kümmerte ihn nicht übermäßig, aber ähnliche und schlimmere Mahnungen
    waren in diesen Tagen ihm von mehreren Seiten zugegangen, so daß er,

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