Die Erzaehlungen 1900-1906
im
Brennpunkt der Aufmerksamkeit diverser Gläubiger, sich fühlte wie die Mücke
im Spinnennetz. Dazu kam die Sorge um das in diesem Semester bevorstehende
Examen, die Scheu vor dem nachher drohenden Amt und Philisterium und das
Vorgefühl des Abschiedes von Tübingen, an den er mit Qualen dachte.
Kurze, ärgerliche Züge aus der langen Weichselpfeife saugend, saß er halb,
halb lag er auf dem zerschlissenen Kanapee und schaute mit gefurchter Stirne den phantastischen Bildungen der Rauchwolken zu, die sich langsam und quir-lend gegen das offenstehende Fenster hin bewegten. Zwischen aufgehängten
Pfeifen, Lithographien und Silhouettebildnissen stand an der breiten Türwand der hellen Stube ein recht stattlicher Bücherschaft, auf welchem neben Klas-sikern und Kompendien eine nicht unbedeutende Sammlung von historischen
und belletristischen Werken sich befand. Rettig hatte eine starke literarische Ader und beteiligte sich seit kurzem teils durch Rezensionen, teils durch kleinere Zeitschriftenartikel am literarischen Leben.
Seufzend erhob er sich endlich vom bequemen Sitz und begann, die Pfeife
in der Linken, mit der Sichtung seiner Bücherei. Die philologische Abteilung, welche ohnehin auf das Notwendigste beschränkt war, mußte unangetastet
bleiben. Mit zornigem Schmerze zog der arme Kandidat Buch um Buch aus
den unteren Regalen, einen Liebling nach dem andern sich vom Herzen reißend, 21
in manchem lange blätternd und bei jedem die Rücknahme in letzter Stunde
sich innerlich vorbehaltend. Die ganzen reichen Semester zogen durch seine
Erinnerung, in denen er diese Sammlung Band für Band zusammengebracht
hatte, in denen sein lebhafter Geist sich von der naiven Begeisterung des
Fuchsen schnell zur selbständigen Kritik des Kenners durchgearbeitet hatte.
Es hatte sich schon ein mäßiger Berg ausgeschiedener Werke auf dem Boden
angetürmt, da ging die Tür, und ein großer blonder Mensch trat herein und
blieb lachend vor der Unordnung stehen. Es war Rettigs Freund und Kollege
Theophil Brachvogel, zurzeit Hauslehrer bei den Söhnen einer Professorenwit-
we.
Prosit, Rettig! Was beim Styx treibst du denn da für Zauber? Du wirst
doch nicht schon wieder packen wollen?
Grimmig ließ der Kandidat seine Bücher liegen und zog den Freund mit sich
auf das Kanapee. Unter reichlichen Verwünschungen und klassischen Schwur-
formeln erzählte er ihm die Bücheraffäre.
Kopfschüttelnd betrachtete der Hauslehrer die zerstörte Bibliothek, um
die es auch ihm leid tat. Er stand auf und nahm von dem aufgeschichteten
Bändestoß den obersten in die Hand.
Was?
rief er nun lebhaft.
Auch den Novalis? Ist es dein Ernst, Alter?
Den Novalis?
Auch ihn, den schönlockigen Seher, ja. Was will ich machen? Jeder Band
ist zuviel, den ich behalte.
Nicht möglich, Schatz. Den Novalis! Ich wollt ihn eben dieser Tage von dir
leihen.
Leih ihn vom Witzgall! Ich behalte nichts, nichts. Ohne Wahl zuckt der
Strahl.
Du, da fällt mir ein: ich kauf ihn dir ab. Die Krämerseele gibt dir doch so
gut wie nichts dafür. Was soll er gelten?
Ich schenk ihn dir.
Unsinn, Knabe. Jetzt auch noch schenken! Sagen wir einen Taler. Einen
Gulden geh ich dir jetzt gleich, den Rest am Tag der großen Gelder.
Gut, gib her! Da ist der zweite Band.
Brachvogel, der zu seinen Schülern mußte, nahm die beiden Bändchen unter
den Arm und eilte mit wenigen Sätzen die schmale, baufällige Stiege hinunter in die Stadt. Gedankenvoll blickte Rettig durchs Fenster seinem Freunde und
seinem Novalis nach. Er sah im Geiste schon seine ganze schöne Sammlung in
alle Winde zerstreut.
Am folgenden Tage erschien pünktlich der höfliche Witzgallsche Gehilfe.
Er sah alles durch, schätzte Buch für Buch, zog eine magere Summe ab, mit
der sich Rettig zornig einverstanden erklärte; alsdann lud ein Knechtlein den ganzen Schatz auf einen Handkarren und führte ihn gleichmütig hinweg. Beim
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Anblick des Verzeichnisses dieser Bücher würde manchem heutigen Sammler
das Herz pochen. Erstausgaben, welche die jetzige Mode mit Talern aufwiegt,
gingen für dreißig und vierzig Kreuzer weg, ja billiger.
Traurig und ärgerlich verließ der Kandidat seine entheiligte Bude, bummelte
mißmutig durch die Gassen und beschloß diesen schwarzen Tag damit, daß er
den gestern empfangenen Novalisgulden einsam im
Löwen
vertrank.
3
Abend. Am schweren Himmel trieb der Föhn die schnellen Wolken vorüber. Im
Fenster einer behaglichen Bude lehnte
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