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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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beharrte er mollig faul im Rasen, fühlte auf seiner welken Haut die schöne Sonnenwärme, überblickte weithin
    den Schauplatz seiner früheren Umtriebe, Arbeit und Leiden und wartete oh-
    ne Ungeduld, bis jemand käme, den er um Feuer für seinen Zigarrenstum-
    pen bitten könnte. Das schrille Blechgehämmer einer Spenglerwerkstatt, das
    ferne Amboßgeläut einer Schmiede, das leise Knarren entfernter Lastwagen
    stieg, mit einigem Straßenstaub und dünnem Rauch aus großen und kleinen
    Schornsteinen vermischt, zur Höhe herauf und zeigte an, daß drunten in der
    Stadt brav gehämmert, gefeilt, gearbeitet und geschwitzt würde, während Karl Hürlin in vornehmer Entrücktheit darüber thronte.
    Um vier Uhr trat er leise in die Stube des Hausvaters, der den Hebel seiner
    kleinen Strickmaschine taktmäßig hin und her bewegte. Er wartete eine Weile, ob es nicht doch am Ende Most und Brot gäbe, aber der Stricker lachte ihn
    aus und schickte ihn weg. Da ging er enttäuscht an seinen Ruheplatz zurück,
    brummte vor sich hin, verbrachte eine Stunde oder mehr im Halbschlaf und
    schaute dann dem Abendwerden im engen Tale zu. Es war droben noch so
    warm und behaglich wie zuvor, aber seine gute Stimmung ließ mehr und mehr
    nach, denn trotz seiner Trägheit überfiel ihn die Langeweile, auch kehrten
    seine Gedanken unaufhörlich zu dem entgangenen Vesper zurück. Ersah ein
    hohes Schoppenglas voll Most vor sich stehen, gelb und glänzend und mit
    süßer Herbe duftend. Er stellte sich vor, wie er es in die Hand nähme, das
    kühle runde Glas, und wie er es ansetzte, und wie er zuerst einen vollen starken Schluck nehmen, dann aber langsam sparend schlürfen würde. Wütend seufzte
    er auf, sooft er aus dem schönen Traum erwachte, und sein ganzer Zorn richtete sich gegen den unbarmherzigen Hausvater, den Stricker, den elenden Knauser,
    Knorzer, Schinder, Seelenverkäufer und Giftjuden. Nachdem er genug getobt
    hatte, fing er an sich selber leid zu tun und wurde weinerlich, schließlich aber beschloß er, morgen zu arbeiten.
    Er sah nicht, wie das Tal bleicher und von zarten Schatten erfüllt und wie
    die Wolken rosig wurden, noch die abendmilde, süße Färbung des Himmels
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    und das heimliche Blauwerden der entfernteren Berge; er sah nur das ihm ent-
    gangene Glas Most, die morgen unabwendbar seiner harrende Arbeit und die
    Härte seines Schicksals. Denn in derartige Betrachtungen verfiel er jedesmal, wenn er einen Tag lang nichts zu trinken bekommen hatte. Wie es wäre, jetzt
    einen Schnaps zu haben, daran durfte er gar nicht denken.
    Gebeugt und verdrossen stieg er zur Abendessenszeit ins Haus hinunter und
    setzte sich mürrisch an den Tisch. Es gab Suppe, Brot und Zwiebeln, und er aß grimmig, solange etwas in der Schüssel war, aber zu trinken gab es nichts. Und nach dem Essen saß er verlassen da und wußte nicht, was anfangen. Nichts zu
    trinken, nichts zu rauchen, nichts zu schwätzen! Der Stricker nämlich arbeitete bei Lampenlicht geschäftig weiter, um Hürlin unbekümmert.
    Dieser saß eine halbe Stunde lang am leeren Tisch, horchte auf Sauber-
    les klappernde Maschine, starrte in die gelbe Flamme der Hängelampe und
    versank in Abgründe von Unzufriedenheit, Selbstbedauern, Neid, Zorn und
    Bosheit, aus denen er keinen Ausweg fand noch suchte. Endlich überwältigte
    ihn die stille Wut und Hoffnungslosigkeit. Hoch ausholend hieb er mit der
    Faust auf die Tischplatte, daß es knallte, und rief:
    Himmelsternkreuzteufels-
    ludernoch’nmal!
    Holla , rief der Stricker und kam herüber,
    was ist denn wieder los? Ge-
    flucht wird bei mir fein nicht!
    Ja, was ins heiligs Teufels Namen soll man denn anfangen?
    Ja so, Langeweile? Ihr dürft ins Bett.
    So, auch noch? Um die Zeit schickt man kleine Buben ins Bett, nicht
    mich.
    Dann will ich Euch eine kleine Arbeit holen.
    Arbeit? Danke für die Schinderei, Ihr Sklavenhändler, Ihr!
    Oha, nur kalt Blut! Aber da, lest was!
    Er legte ihm ein paar Bände aus dem dürftig besetzten Wandregal hin und
    ging wieder an sein Geschäft. Hürlin hatte durchaus keine Lust zum Lesen,
    nahm aber doch eins von den Büchern in die Hand und machte es auf. Es war
    ein Kalender, und er begann die Bilder darin anzusehen. Auf dem ersten Blatt war irgendeine phantastisch gekleidete ideale Frauen- oder Mädchengestalt als Titelfigur abgebildet, mit bloßen Füßen und offenen Locken. Hürlin erinnerte sich sogleich an ein Restlein Bleistift, das er besaß. Er zog es aus der Tasche, machte es

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